Sonntag, 28. März 2021

#006.10 – Sarah – Insel in trüber See

 

#006.10 – Sarah – Insel in trüber See

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Insel in trüber See


 
Es war wieder Wochenende. Der Kater Spike spähte unter einen knospenden Busch und fuhr seine Tatze langsam aus. Es war weit und breit keine Maus zu sehen, aber Spike lag trotzdem auf der Lauer. Irgendwann würde das kleine Nagetier seine schützende Höhle verlassen, er hatte alle Zeit der Welt.

Sarah trat gerade durch die Haustür nach draußen und klapperte mit ihrem Schlüsselbund. Sie war auf dem Weg zum Supermarkt. Demnächst war Ostern und auch wenn Besuche wegen der Pandemie so gut wie nicht möglich waren, musste trotzdem der Kühlschrank aufgestockt werden. Sarah hatte noch überhaupt keine Idee, wie sie Ostern verbringen wollte. Die Steuererklärung stand auf der Liste der zu erledigenden Dinge, was für eine sehr langweilige Angelegenheit. Eine Radtour bei schönem Wetter war eine bessere Option für die freien Tage.

Wir werden sehen“, dachte Sarah, als sie den Schlüssel in das Fahrradschloss steckte. Nach ihrem Einkauf wollte sie unbedingt einen Brief an den Mann schreiben, dem sie seine verlorene Geldbörse zurückgeschickt hatte. Der altmodische Briefwechsel zwischen Hessen und Norddeutschland war einfach das Netteste, was gerade in Sarahs Leben passierte.

Wieder zu Hause angekommen, setzte Sarah sich gleich an ihren Schreibtisch. In der Küche arbeitete die Kaffeemaschine geräuschvoll vor sich hin.

Mein Briefpapier geht langsam zu Neige, so viele Briefe habe ich in den letzten fünf Jahren nicht mehr geschrieben“, gedankenverloren wanderte ihr Blick zu dem Blumenbild an der Wand.

Lieber Thomas,

schön, dass wir uns jetzt duzen. Dass Du mir von dem tanzenden Schweinchen im Baum vor Deinem Fenster geschrieben hast, werte ich als besonderen Vertrauensbeweis und weiß es zu schätzen. Obwohl wir uns bis jetzt persönlich noch nicht begegnet sind, habe ich das Gefühl, als würde ich Dich schon sehr lange kennen. Es ist auch ein bisschen unheimlich, finde ich.

Danke, dass Du mir ein kleines Update zu Deinem Wohnort gegeben hast. Das klang für mich alles trostlos: Nur noch ein kleines Programmkino, eine leer gefegte Altstadt ohne die üblichen Scharen von Studenten, geschlossene Trödel- und Buchläden und nicht zu vergessen die Jazz-Kneipe, in der gerade kein Musiker auftritt.

Damals ist mir übrigens aufgefallen, dass kein Cappuccino oder ähnliches auf der Getränkekarte stand. Der Gitarrist, mit dem ich seinerzeit dort war, trank eine Tasse Filterkaffee nach der anderen, ohne Minikeks natürlich. Irgendwie war alles sehr pur, die Getränke, die Gäste, die Musik und auf den zerkratzten, leicht klebrigen Holztischen standen maximal weiße Kerzen als Deko. Verstehst Du, was ich meine? Wahrscheinlich schon, weil wir anscheinend bei solchen Details auf einer Wellenlänge sind, was ich sehr spannend finde.

Du fragtest mich nach meinen Buch-Vorlieben. Im Grunde hast Du den Nagel auf den Kopf getroffen, bei mir stehen Rilke und Hesse neben tiefgründigen Krimis. Sind wir uns in einem früheren Leben schon einmal begegnet? Rilke und Hesse-Bücher wohnen schon lange mit mir zusammen. Ich würde sie aus der Wohnung retten, falls es brennen sollte. Meiner Meinung nach prägen Bücher das Weltbild ihrer Leserschaft. Ich kann beim Lesen alles um mich herum vergessen und komplett in eine Handlung oder einen Gedanken eintauchen.

Du schriebst, dass Du beruflich mit Büchern zu tun hast. Ich bin natürlich neugierig, mehr darüber zu erfahren. Bis jetzt habe ich Deinen Namen (noch) nicht bei der bekannten Suchmaschine im Internet eingegeben, obwohl ich ein- oder zweimal diesen Impuls hatte. Diese Kommunikation per Brief ist einfach entschleunigt und charmant, das Internet, so praktisch es für andere Belange auch sein mag, passt nicht dazu. Deshalb lege ich diesem Brief ein echtes ausgedrucktes Foto von mir bei, damit Du eine Vorstellung davon bekommst, mit wem Du es zu tun hast. Vielleicht hast Du ja auch eines für mich?

Auf Deinen nächsten Brief freue ich mich schon sehr. Die momentane komplizierte Welt da draußen wird durch Deine Briefe ein bisschen schöner und freundlicher.

Es grüßt Dich Deine Sarah

Sarah faltete das Papier langsam und legte es in einen Umschlag. Wenn es wieder möglich war, würde sie in dem hübschen Städtchen, in dem Thomas lebte, einen Kurzurlaub verbringen. Es fühlte sich an, als wäre ein innerer Magnet eingeschaltet worden. Er zog sie in frühere Zeiten der Sorglosigkeit und gleichzeitig in die Richtung neuer Horizonte.


 
Ihr fiel eine weitere Begebenheit von damals wieder ein. Bei einer Fahrt mit dem Stadtbus in jener Stadt hatte sie mit einem fremden Mann aus dem Nichts ein tiefgründiges philosophisches Gespräch über das Leben geführt. An Einzelheiten konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber der Mann bedankte sich beim Aussteigen bei ihr für den wundervollen Gedankenaustausch, den er niemals vergessen würde. Die Atmosphäre war ihr aber noch lebhaft in Erinnerung geblieben, alle anderen Fahrgäste und das Alltägliche war für diese kurze Zeitspanne ihres Gespräches ausgeblendet gewesen.

Diese Stadt hat einen ganz eigenen Zauber“, dachte sie, „und ich war so lange nicht mehr dort. Das werde ich ändern.“

Pat Metheny: Dream of the Return

Fortsetzung folgt

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