#006.11 – Sarah – Ostern
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Heute kommt Sarah wieder
zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.
Ostern
Das lange Osterwochenende war angebrochen. Wie im letzten Jahr wurde alles von der Pandemie überlagert. Im benachbarten Bundesland gab es sogar nächtliche Ausgangssperren. Die allgemeine Stimmung war entsprechend gedrückt. Fast jeder zog sich in seine eigene kleine Welt zurück und haderte damit, dass Reisen und Besuche nur eingeschränkt möglich waren.
Sarah hatte immer noch keinen richtigen Plan für das lange Wochenende. Bei der Arbeit war viel los gewesen und eine Ruhepause zum Durchatmen dringend nötig.
Vor ein paar Tagen hatte sie einen Brief an Thomas nach Hessen geschickt. Thomas und sie kannten sich nicht persönlich, nur aus einem immer intensiver werdenden Briefwechsel. Bei ihrem letzten Brief hatte sie ein Foto von sich dazu gelegt und hoffte insgeheim, dass er ihr ebenfalls eines schicken würde. Sie war sehr neugierig auf diesen Mann, dessen Brieftasche sie vor einiger Zeit gefunden und ihm zurückgeschickt hatte. Daraus war die Brieffreundschaft entstanden, die für Sarah ein heller Silberstreifen am Horizont in diesen trüben Zeiten war.
Gründonnerstag Nachmittag trug sie zwei Einkaufstaschen die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. In ihrem Briefkasten war kein Antwortbrief von Thomas gewesen, nur eine Rechnung von ihrer Versicherung.
„Einmal in der Badewanne abtauchen, bitte“, dachte Sarah, „mit ganz viel Schaum, einer Kerze und Barock Musik.“
Wenn Sarah eine Sache während der langatmigen und manchmal zähen Phase der Pandemie gelernt hatte, war es, die kleinen Dinge des Alltags zu zelebrieren. Ein Schaumbad gehörte definitiv dazu.
Auf der Fußmatte vor der Wohnungstür war ein kleines Paket abgelegt worden. Wenn Sarah nach Hause kam, lag der Kater Spike manchmal dort. Ein Paket bekam sie selten. Sie gehörte zu den Menschen, die lieber in Geschäften einkauften, was sich während der Pandemie manchmal als schwierig erwies.
Neugierig stellte sie die Taschen ab und las den Absender. Dieses Päckchen kam aus Hessen, was für eine nette Überraschung nach einem anstrengenden Tag. Einer ihrer Nachbarn hatte es wahrscheinlich angenommen und dort abgestellt.
Stille umfing sie, als sie ihre Wohnung betrat. Es war so wohltuend und beruhigend nach den ganzen Telefonaten und der Hektik im Büro, dazu kam die Aussicht auf die freien Ostertage. Sarah seufzte erleichtert, um dann gleich mit dem Päckchen ins Wohnzimmer zu gehen. Sie war sehr gespannt auf den Inhalt. Die Einkäufe konnten warten.
Sarah öffnete das kleine Paket. Darin war ein Briefumschlag, der mit einem schwungvollen „Sarah“ beschriftet war, und zwei liebevoll verpackte Geschenke. Die verschlungenen Ornamente auf dem Geschenkpapier erinnerten an Geschichten aus tausend und einer Nacht. „Wie schön“, dieser Gedanke war Sarahs erster Impuls. Einmal mehr hatte sie das Gefühl, in eine andere Welt einer anderen Zeit einzutauchen. Diese Welt hatte mit der Pandemie, schlechten Nachrichten und Ängsten nicht das Geringste gemein.
Liebe Sarah,
vielen Dank für Deinen Brief.
Trotz aller Widrigkeiten wünsche ich Dir ein frohes Osterfest. Wie verbringst Du es dieses Jahr? Bist Du sonst immer um diese Zeit im Urlaub gewesen oder hast Du mit einer riesigen Familie gefeiert, inklusive Ostereiersuche?
Da ich es nach wie vor großartig finde, dass Du mir meine verlorene Geldbörse zurückgeschickt hast, nutze ich die Gelegenheit dieses Osterfestes für zwei kleine Geschenke an Dich. Ich empfehle die Lektüre des Briefes an dieser Stelle zu unterbrechen, und die Päckchen auszupacken. Dann schreibe ich Dir noch ein paar Dinge dazu.
Sarah öffnete erst das Geschenk, in dem offensichtlich ein kleines Buch verpackt war. Es war ein Band von Rainer Maria Rilke „Briefe an einen jungen Dichter“, sehr alt, gut erhalten und mit dem besonderen Geruch alter Bücher. Bedächtig blätterte Sarah in dem Buch. Grüne Blätterranken zierten den Einband. Selten hatte Sarah etwas Schöneres gesehen, es war ein echter Schatz. Ihr oft gelesenes Exemplar der berührenden Briefe im Bücherregal war dagegen unscheinbar, fast schon unansehnlich.
Das zweite Geschenk war ein kleines Segelboot in einer Flasche, ein sogenanntes „Buddelschiff“. Darüber wunderte sich sie sich ein wenig, weil es in Hessen zwar viel Wald aber wenige Segelboote gab. Deshalb war sie umso mehr gespannt darauf, den Brief weiter zu lesen.
Ich gehe zwar davon aus, dass Du das Buch schon besitzt, aber ich möchte Dir trotzdem genau diese Ausgabe schenken. Da wir uns Briefe schreiben, finde ich es sehr passend.
Das kleine Segelboot hat für mich sehr viel Ostern zu tun. Darüber wunderst Du Dich vielleicht. Nein, es ist nicht mein jährliches Ritual, um diese Zeit an die Ostsee zu fahren oder ähnliches. Ich habe ein kleines Ferienhaus am Edersee und verbringe dort oft freie Wochenenden, besondere gerne lange Wochenenden wie Ostern. Im Zuge des Klimawandels führt der Edersee leider weniger Wasser als noch einigen Jahren. Das bedeutet, segeln ist nicht mehr das ganze Jahr möglich. Trotzdem kann man dort eine grandiose Natur beobachten und mein großes Glück ist ein unverbaubarer Blick auf das Wasser. Wer weiß, vielleicht kann ich Dir dieses kleine Paradies irgendwann einmal zeigen? In meinem Häuschen gibt es ein Gästezimmer und eine Terrasse mit gemütlichen Liegestühlen in Blickrichtung des Sees. Ich kann stundenlang auf das Wasser sehen und entdecke immer neue Wellenmuster. Das ist meine Art zu meditieren und zu entspannen.
Übrigens, vielen Dank für das schöne Foto von Dir. Tatsächlich habe ich gerade kein (aktuelles) ausgedrucktes Foto von mir griffbereit. Weil ich Dir unbedingt rechtzeitig dieses Päckchen zu Ostern schicken wollte, bekommst Du ein Bild mit meinem nächsten Brief. Ich hatte verstanden, dass Du - genauso wie ich - den entschleunigten Postversand einer E-Mail vorziehst. Mir geht es wie Dir, Deine Briefe sind gerade in diesen dunklen Pandemie-Zeiten ein Lichtblick, nein, ich korrigiere mich: Sie sind das Licht am Ende des Tunnels!
Ich freue mich auf Deine nächsten Zeilen, passe gut auf Dich auf, bleibe gesund und
herzliche Grüße
Dein Thomas
Am Edersee war Sarah noch nie gewesen. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Freundin, die damals in Thomas Heimatstadt studierte, davon erzählt hatte. Der Edersee war ein großer Stausee und am Wochenende führen viele Hessen dort hin, um zu baden, zu wandern oder mit Motorrädern am Ufer entlang zu fahren. Über allem thronte ein Schloss, was mittlerweile als Hotel genutzt wurde.
Wer weiß, vielleicht würde sie Thomas wirklich einmal besuchen. Die Idee, einen Kurzurlaub in Hessen zu verbringen, war sowieso in ihrem Kopf. Während der Pandemie war Hessen so weit weg wie Australien, Neuseeland oder der Mond. Weiter als bis zum Supermarkt, zur Arbeit und ab und zu ihrer besten Freundin ein paar Straßen weiter bewegte sie sich momentan nicht. Wie würde es sich anfühlen, ein paar hundert Kilometer mit der Bahn zurückzulegen, zu beobachten, wie sich die Landschaft und die Farben veränderten und zwischendurch einen Kaffee aus dem Bordrestaurant zu holen, ohne ein Stoffgebilde im Gesicht?
„Das kann ich mir gerade überhaupt nicht vorstellen“, dachte sie, „schade, dass man ein Buddelschiff nicht in der Badewanne schwimmen lassen kann. Ich könnte es aber auf den Badewannenrand stellen und ansehen, während ich zum Start ins Osterwochenende in Schaumbergen abtauche.“
Ludwig Güttler: Corno da caccia Concerto in E-Flat Major: I. Allegro
Fortsetzung folgt
Liebe Leserinnen und Leser,
frohe Ostern und viele bunte Ostereier wünsche ich Euch. Lasst Euch nicht
unterkriegen und, um ein Zitat aus meinem Blog zu bemühen:
"Auch das geht vorbei."
Danke für Eure Treue und Euer Interesse
Liebe Grüße von der Autorin
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