Montag, 22. März 2021

#006.9 – Sarah – ein tanzendes Schweinchen im Baum

 

#006.9 – Sarah – ein tanzendes Schweinchen im Baum


Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Ein tanzendes Schweinchen im Baum


Die letzten Zuckungen des Winters legten sich auf das Gemüt der Menschen. Ständig war es kalt und nass, außerdem gab es rund um die Uhr Nachrichten über die Pandemie. Die Impfungen verliefen schleppend und so mancher Politiker hatte sich im Zuge der Weltnotlage an medizinischer Ausrüstung bereichert. Das war besonders bitter für die Teile der Bevölkerung, die ihre berufliche Existenz verloren hatten oder sehr gefährdet waren, dass genau das demnächst passieren würde. Auch in dem Mehrfamilienhaus, in dem Sarah und der Kater Spike lebten, gab es Bewohnerinnen und Bewohner, die viele Sorgen hatten.

Sarah kämpfte innerlich gegen die schlechte allgemeine Stimmung an. Sie zwang sich immer wieder dazu, ihre Aufmerksamkeit auf die kleinen positiven Lichtblicke des Alltags zu lenken. Einer davon war sicherlich der Austausch altmodischer Briefe mit einem netten Mann aus Hessen. Sie hatte seine Geldbörse auf einem Supermarkt-Parkplatz gefunden und ihm zurück geschickt. Da diesen Briefe die Patina des letzten Jahrhunderts anhaftete, hatte Sarah ihre Neugierde bezwungen und darauf verzichtet, bei einer Suchmaschine im Internet mehr über diesen Mann herauszufinden. Diesen entschleunigten Austausch wollte sie nicht durch das turboschnelle Internet stören.

Wieder lag an einem Dienstag Abend ein Leinenpapier-Umschlag von Thomas Schneider in Sarahs Briefkasten. Sarah nahm den Brief behutsam an sich und freute sich darauf, gleich seine Zeilen zu lesen. In ihrem Kühlschrank wartete noch eine leckere Gemüsesuppe von gestern und ein Rest Weißwein vom Wochenende.

Herr Müller aus dem 1. Stock kam ihr auf dem Weg zu ihrer Wohnung entgegen und schaute leer durch sie hindurch. Herr Müller hatte seine Arbeit verloren und verließ seine Wohnung seitdem sehr selten. Sein Strickpullover war fleckig und er trug eine volle Kiste mit Altpapier. Es war ein sehr deprimierender Anblick, besonders seine glanzlosen Augen. Sarah grüßte ihn trotzdem freundlich, erhielt aber keine Antwort. „Ist Herr Müller dem Alkohol verfallen?“ überlegte Sarah.

Schnell ließ Sarah ihre Wohnungstür ins Schloss fallen. Sie freute sich auf ihre Brief-Abendlektüre.

Wieder hatte Herr Schneider  Leinenbriefpapier benutzt und den Brief mit Tinte geschrieben. Wahrscheinlich gab es in der Umgebung dieses Mannes keine banalen Kugelschreiber aus Plastik mit Werbeaufdruck. Wie er wohl aussah? Sarah stellte sich einen großen schlanken Mann mit gepflegter Kleidung und frisch geputzten Lederschuhen vor. Den Impuls, doch schnell die Suchmaschine im Internet aufzurufen, unterdrückte sie.

Liebe Sarah,

über Ihre Antwort auf meinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Die Idee, Ihnen regelmäßig zu schreiben, gefällt mir sehr gut. Alle aktuellen Medien nutze ich natürlich auch, aber Briefe zu schreiben, fühlt sich ganz anders an, als zum Beispiel eine Mail zu verfassen.

Gerne berichte ich Ihnen, was sich in meiner Heimatstadt so tut. In den Pandemie-Zeiten ist es eher traurig hier. Sie schrieben von Ihren damaligen lustigen Abenden in den Studenten-Kneipen mit Ihrer Freundin, ja, die Kneipen sind einfach zu und verwaist. Auf den Straßen und in der historischen Innenstadt mit den Fachwerkhäusern sind wenige Menschen unterwegs. Die beiden Drogeriemärkte dort haben geöffnet, ansonsten ist alles zu. Ein Laden, der Trödel und alte Möbel verkauft hat, hat aufgegeben. Den könnten Sie jetzt mieten, wenn Sie wollten.

Die Jazz-Kneipe ist zwar geschlossen, aber ich hatte neulich gehört, dass die Pächter, wenn es möglich ist, wieder öffnen möchten. In der Tat bin ich vor den Corona-bedingten Schließungen öfter dort gewesen. Und Sie haben recht: Die Musiker auf der kleinen Bühne schienen wirklich mit Ihren Instrumenten verwachsen zu sein.Ich finde es sehr bemerkenswert, wie Sie Ihre Wahrnehmungen beschreiben. Es gibt nicht viele Menschen, die ihre Sichtweise auf ihre Umgebung so ausdrücken wie Sie.

Gehören Sie auch zu den Personen, die versuchen, Muster in einem ausgetretenen alten Straßenpflaster zu erkennen? Oder Bilder in vorbeiziehenden Wolken? Bitte lachen Sie mich nicht aus, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich in der Anordnung der Zweige und Blätter bei einem Baum vor meinem Wohnzimmerfenster letzten Sommer ein lustig hüpfendes Schweinchen erkennen konnte. Obwohl wir uns gar nicht persönlich kennen, vermute ich, dass Sie verstehen, wie ich das meine.

Was die kleinen Kinos betrifft, muss ich Ihnen leider schreiben, dass nur eines davon noch existiert. Ob es nach dem Lockdown wieder öffnen wird, ist nicht sicher, da es seit ein paar Jahren ein neu gebautes modernes Kino gibt, in dem alle Blockbuster laufen. Die Filme, die Preise gewinnen, die keiner kennt (auch sehr schön von Ihnen formuliert), werden vielleicht demnächst nicht mehr in unserer Stadt gezeigt.

Natürlich bin ich neugierig darauf, mehr über Sie zu erfahren. Zum Beispiel interessiert mich, welche Art Bücher Sie mögen. Beruflich habe ich mit Büchern zu tun, deshalb ist das immer spannend für mich. Lesen Sie psychologisch tiefgründige Krimis oder Gedichte von Rilke? Ich vermute, dass Sie beides mögen. Liege ich mit meiner Einschätzung richtig?

Ich freue mich darauf, bald wieder von Ihnen zu lesen.

Es grüßt Sie aus dem (Lockdown)-verschlafenen historischen Studenten-Städtchen ganz herzlich

Thomas Schneider

PS Was halten Sie davon, wenn wir das steife „Sie“ hinter uns lassen und zum vertrauteren „Du“ übergehen? Schließlich habe ich Dir schon von dem tanzenden Schweinchen in dem Baum vor meinem Fenster erzählt ….


Sarah strich versunken über das sorgfältig beschriebene Leinenpapier. Ihr Blick wanderte zu ihrem Bücherregal. Dort standen genau die Art Bücher, die er in seinem Brief beschrieben hatte, altmodische Bände mit Blumenranken von Rilke neben Krimis von skandinavischen und englischen Autoren. Außerdem suchte sie in ihrer Umgebung tatsächlich meistens nach Bildern oder Mustern. Das hatte sie allerdings noch nie jemandem erzählt. Der Mann hatte mit seinen Vermutungen komplett ins Schwarze getroffen. Wie konnte das sein?

In den nächsten Tagen würde sie auf seinen Brief antworten. Gab es so etwas wie Seelenverwandtschaft?

In der Küche schenkte Sarah sich den Rest Weißwein aus dem Kühlschrank ein und nippte nachdenklich an dem Glas. Sie hatte gerade das Gefühl, etwas besonders Wertvolles gefunden zu haben, einen Bernstein bei einem Spaziergang am Strand, in dem ein Insekt eingeschlossen war, inmitten unzähliger zersplitterter Muscheln.



I Believe in Little Things — Diana Panton

Fortsetzung folgt

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