Donnerstag, 31. Oktober 2024

#003.5 Hannah - Halloween

 

#003.5 Hannah - Halloween

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
 meiner Geschichten. :-)


Erinnert Ihr Euch noch an Hannah, das feinfühlige Mädchen
und die beste Freundin von Kater Spike?
Es ist Herbst und sie hatte einen seltsamen Traum.

Halloween


Hannah saß nachdenklich auf einer kleinen Mauer am Rande des Schulhofes und dachte an ihren Traum letzte Nacht. Bunte Blätter lagen überall auf dem Boden und leuchteten um die Wette. Es war Ende Oktober und morgen war schulfrei. Einige Leute nannten den 31. Oktober Reformationstag, andere Halloween. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf und den Traum wie einen Film vor ihrem inneren Auge ablaufen.

Die Wecker in der Elektronikabteilung des kleinen Kaufhauses zeigten 18.15 Uhr an. Im Eingangsbereich war die Halloween-Saisonware gleich neben einem Stapel blauer Einkaufskörbe aufgebaut. Einige Kunden waren noch im Laden unterwegs, die Verkäuferinnen und Verkäufer freuten sich auf den Feierabend. Ab 18.30 Uhr würde kein Kunde mehr in den Laden hineingelassen werden und spätestens um 19.00 Uhr würde hier Ruhe einkehren.

Mit eiligen Schritten sah sich Hannah den Laden betreten. Sie war ein wenig außer Atem und griff nach einem blauen Einkaufskorb.

Ein gackerndes Lachen mit einem blechernen und schnarrenden Unterton schallte aus der Richtung einer fast lebensgroßen Hexenfigur und danach folgte der Spruch: „Du wirst in der Hölle schmoren“.

Hannah zuckte zusammen und bewegte sich schnell ins Innere des Kaufhauses. Hätte sie noch länger bei der Saisonware verweilt, wären ihr die Kürbisse aus Plastik mit den gruseligen Gesichtern, die überdimensional großen schwarzen Kunststoff-Spinnen und Totenköpfe mit bunten leuchtenden Augen aufgefallen. Aber diesen detaillierten Anblick hatte sie sich erspart und kümmerte sich eilig um den Kauf einer Geburtstagskarte für ihre Oma.

Nachdem die Filialleiterin um 19.00 Uhr die gläserne Eingangstür abgeschlossen hatte, war es auf einmal dunkel und still in dem Kaufhaus. Eine Notbeleuchtung spendete trübes Licht. Eine geisterhafte Hannah wurde Zeugin folgender Unterhaltung.

Die Hexenfigur seufzte: „Ich brauche dringend Urlaub, es ist so anstrengend, den ganzen Tag die Leute anzuquatschen und so albern zu lachen.“

Kurt Kürbis, das grell-orange Plastik-Gemüse, mit den asymmetrischen Gesichtszügen antwortete prompt aus dem Regalaufsteller: „Hör doch auf herum zu jammern. Das nervt total, seit vier Wochen immer die gleiche Leier von dir, Henny.“

„Mich nervt, dass du, seitdem wir hier aufgebaut wurden, ständig schlechte Laune verbreitest. Jeden Tag habe ich gehofft, dass dich endlich ein Kunde kauft. Allerdings bist du so hässlich, dass du ab dem ersten November in der Ramsch-Ecke mit 50 % Rabatt-Aufkleber landen wirst.“

Henny Hexe konnte kaum an sich halten, so schnell purzelten die Worte aus ihrem Plastikmund unter der Hakennase mit Warze. Gleichzeitig stieg ein Gefühl von schlechtem Gewissen in ihr auf. Eigentlich wollte sie ihre Halloween-Kollegen nicht anmotzen. Sie war eine friedliebende Hexe, ganz anders als es der Spruch, den sie allen Kunden, die sich ihr näherten, an den Kopf warf, vermuten ließ. Eigentlich wäre sie lieber eine Baby-Puppe geworden, um die sich ein Kind ausdauernd kümmern würde. Aber sie hatte das Pech, in der Nachbar-Maschine in Asien neben der Baby-Puppen Produktion entstanden zu sein.

Kurt Kürbis wurde noch ein bisschen mehr orange, seine Worte überschlugen sich: „Du stehst doch noch genauso wie ich seit Wochen hier herum. Alle Kunden ergreifen die Flucht vor dir und wir müssen uns den ganzen Tag deinen ewig gleichen Satz anhören. Dafür wirst du in der Hölle schmoren.“

„Was ist genau dein Problem, Kurt?“, seufzte Henny, „ich bin viel zu müde, um mit dir zu streiten. Tut mir leid, dass ich dich eben angeschnauzt habe. Natürlich bist du ein ganz normaler Halloween-Kürbis. Wir sehen alle ziemlich daneben aus und nichts an uns ist echt. Die Leute lieben das anscheinend, warum auch immer.“

„Hm“, kam von Kurt Kürbis aus dem Regal, „das habe ich mich in der Tat auch schon gefragt, warum Menschen ihre Wohnungen mit grimmigen Gemüse dekorieren. Und, nimm es bitte nicht persönlich, so eine riesige Hexe mit Hakennase zu kaufen, die einen direkt in die Hölle schicken will, ergibt für mich überhaupt keinen Sinn.“

„Das Kaufhaus verdient mit uns Geld“, quäkte seltsam monoton ein bleicher Totenkopf mit roten Augen von der anderen Ecke des Regalaufstellers, „nach einem anderen Sinn zu fragen, ist überflüssig.“

Henny hätte gern einen Arm gehoben und sich an ihrer Hakennase gekratzt, das war aber nicht möglich. Bewegen konnte sich keiner aus dem Halloween-Sortiment.

„Vielleicht sollten wir es so sehen. Wir sind in schlechter Qualität hergestellt worden, dampfen garantiert etwas Giftiges aus und werden deshalb schnell in Kellern oder auf Dachböden verschwinden. Oder die Kunden schmeißen uns nach ihrer Halloween-Party direkt in den Müll. Wir Schattenfiguren fristen ein Schattendasein. Das ist unsere Bestimmung.“

Die roten Augen des Totenkopfes fingen an zu leuchten:
„Wir sind Auswüchse einer eskalierten Konsumgesellschaft.“
Nach diesem Satz erloschen die Augen wieder. 

„Gestern hat mich ein Kind aus dem Regal genommen und mit großen Augen angeschaut. Die Mutter sagte zu dem Kind: ‚Stell das wieder weg, wir brauchen es nicht.‘ Wenn uns niemand mehr kauft, wird in den Fabriken vielleicht etwas anderes hergestellt“, Kurt Kürbis war auf einmal ganz aufgeregt.

„Du hast Recht, Kurt. Wenn wir Ladenhüter werden, hat der Halloween-Spuk im wahrsten Sinne des Wortes ein Ende“, Hennys Stimme klang auf einmal versöhnlich, „wir werden sehen, was kommen wird.“

„Morgen schickst du alle Kunden wieder in die Hölle“, gab Kurt Kürbis zu bedenken.

„Wir sollten uns nicht weiter aufregen. Unser Plastikgeruch ist so penetrant, dass die Menschen bestimmt von selbst darauf kommen, uns einfach stehenzulassen“, Hennys Stimme wurde immer leiser.

Die roten Augen des Totenkopfs fingen wieder an zu leuchten:
„Gute Nacht und morgen auf ein Neues.“

Dann kehrte wirklich Ruhe in dem Kaufhaus ein und die geisterhafte Hannah löste sich auf.

 

Hannahs beste Freundin Anna setzte sich zu ihr auf die Mauer: „Hey Hannah, noch zwei Stunden und dann können wir nach Hause.“

Hannah, noch ganz gefangen in ihren Gedanken und ihrem Traum, kehrte langsam wieder in die Realität zurück. Einige jüngere Kinder rannten einem Ball hinterher und schrien sich gegenseitig Kommandos zu.

„Ach Anna, ja, stimmt. Morgen ist Halloween, was ich noch nie verstanden habe. Meine Mutter kocht Kürbissuppe, die mag ich gern. Aber ansonsten werde ich mich mit einem Buch in meinem Zimmer verkrümeln.“

„Ich werde ausschlafen und vielleicht Vivi besuchen. Mal sehen“, Anna wippte ein wenig mit den Beinen.

Hannah überlegte, ob sie Anna von ihrem Traum erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Außerdem war die Pause fast zu Ende. Sie würde diese nächtliche Szene dem Kater Spike, ihrem pelzigen Lieblingsnachbarn, demnächst verraten, wenn sie beide wieder einträchtig auf der obersten Kellertreppenstufe sitzen würden. Das waren immer besondere Momente und Hannah hatte dabei stets das Gefühl, dass Spike jedes ihrer Worte verstehen würde.

Fortsetzung folgt


Liebe Leserinnen und Leser,

einen schönen Feiertag wünsche ich Euch. Egal, ob Ihr Spaß an Halloween habt oder nicht, lasst es Euch gutgehen und genießt diesen wunderschönen Herbst.

Viele Grüße von der Autorin



  

Sonntag, 1. September 2024

#000.17 – Spätsommer Schmetterling

 

#000.17 – Spätsommer Schmetterling


Das Licht wird goldener,

die Tage spürbar kürzer

und in verträumter grüner Silhouette

hell Sommerblumen in der Mittagssonne leuchten,

fernab von allem nächtlichen Kalten und Feuchten.

 

Schmetterlinge,

fragile kleine Wesen,

tanzen und schweben,

neben

fast unsichtbaren Spinnenweben,

in denen sich abends

Tautropfen verfangen.

Viele Falter bleiben nicht daran kleben,

trotz Gefahr:

Sie leben

ihre Freude

und Buntheit

und folgen unbeirrbar ihrer Bestimmung,

uns an die Vergänglichkeit des Augenblicks zu erinnern.

 

Der Sommer gibt noch einmal alles,

lässt tagsüber die Temperaturen steigen,

die gelben Köpfe der Sonnenblumen sich langsam neigen,

während andere Blumen ihre schönsten Farben zeigen.

Der Spätsommer Schmetterling

flattert, steigt und fällt, tanzt

als gäbe es kein Morgen,

keine Schmetterlingssorgen,

keine Zukunftsschwere,

oder demnächst Dunkelheit,

Kälte und Dauerregen.

Von wegen,

es zählt nur dieser Moment

in dieser zeitlosen Szene

der Leichtigkeit

und Freude.

 

Abends hingegen

bei sinkenden Temperaturen

erdige Gerüche mit Ahnungen von Herbst dem Boden entsteigen.

Sichtbar auf Kalendern und Uhren

will sich die folgende Jahreszeit bald in voller Pracht zeigen,

Viele Menschen bleiben

aber im Dunkeln draußen hocken,

in Strickpullis und in Socken,

am Mund ein Glas spritzigen Wein,

den Blick auf Feuertonne oder Kerze,

so wandern sommerliche Scherze

durch die Spätsommer Nacht.

Über all dem ein glitzernder Sternenhimmel wacht.

 

Morgen um die Blumen

werden wieder Schmetterlinge

zur Feier des Tages im Sonnenschein

tanzen und schweben.

Nehmen wir es an,

dieses pralle, wechselvolle Leben

und die Augenblicke in allen Facetten,

frei von inneren ängstlichen Ketten.



 Liebe Leserinnen und Leser,

heute ist denkwürdiger Tag. Vor 85 Jahren überfiel Nazi-Deutschland Polen und riss die ganze Welt ins Elend. Heute am 1. September wurde in zwei Bundesländern bei Landtagswahlen unter anderem eine Partei mit rechtsextremistischen Tendenzen mit einer großen Zustimmung seitens der Wählerschaft bedacht. Ich frage mich oft, was in den Menschen vorgeht, die sich für extreme, spaltende Parolen begeistern. Als Autorin möchte ich einen Beitrag leisten, das bunte, vielfältige Leben zu feiern, und den Moment zu genießen. Meine Überzeugung ist, dass Lebensfreude und Zusammenhalt Bollwerke gegen das dumpfe Weltbild dieser traurigen Gruppe der Gesellschaft sein können. Vielleicht finden einige Verirrte den Weg zurück zu respektvoller Diskussion für die Lösung der aktuellen Herausforderungen in der Welt? Weicht Diskussionen nicht aus, bleibt bei Euch, fragt diese Leute, welche genauen Quellen sie für ihre oft pauschalen Aussagen nennen, hakt nach. Im Endeffekt wollen wir doch alle ein glückliches sicheres Leben führen, im Spätsommer abends auf der Terrasse oder Balkon mit anderen einen guten Wein genießen und in die Sterne schauen, oder?

In diesem Sinne wünsche ich Euch eine gute Zeit und konstruktive Begegnungen mit Euren Mitmenschen.

 Eure Autorin G. Heiser



Dienstag, 13. August 2024

#000.16 Himmlisch

 

#000.16 Himmlisch


Es herrscht Ruhe im Kopf.

Himmlisch.

 

Golden die Sonne scheint,

auf eine besondere Art,

so als sei nur ich gemeint.

Im Spiegel hätte ich mich heute Morgen

fast nicht erkannt,

so entspannt.

Zugelächelt habe ich mir selbst

und mich gefreut.

Der Urlaub hat begonnen,

durchatmen,

Raum und Zeit

habe ich gewonnen,

keine Tretmühle oder Termine

und erst recht keine gestresste Miene.

Himmlisch

 

Der Geruch von Kaffee

und Unendlichkeit.

Der Wecker hat Pause.

Auf dem kleinen Tisch

neben dem Bett

über einander gestapelt

drei Bücher liegen,

heute wird die Phantasie den Alltag besiegen,

Muße und Eintauchen in Geschichten.

Hektik?

Mitnichten!

 

Himmlisch

diese Ruhe.

Es ist schon so,

dass ich gern etwas tue,

aber manchmal möchte ich nur träumen

und dieses tiefe Gefühl

von innerem Frieden nicht versäumen,

ihm nachspüren

es in den Tag mitnehmen,

Kontrolle abgeben.

 

Das Telefon ist aus,

gleich geht es raus,

mit dem Rad an die Elbe

und dann sind die Füße

im weichen Sand.

Die Wellen rollen gemächlich

an den Strand,

dazu ein großer Pott am Horizont.

Himmlisch

 

Etwas zu Trinken und zum Naschen

befindet sich in den Fahrradtaschen,

natürlich eine Decke, Sonnencreme,

getönte Brille

und ein Buch.

So fühlt sich Urlaub an.

Himmlisch

 

Kinder spielen im flachen Wasser,

sie lachen,

bauen Burgen und Gräben aus Sand

und haben ab und zu ein Eis

vom Kiosk in der Hand.

 

Das Buch beiseite gelegt,

alles Negative im Kopf und Herzen weggefegt,

die Augen geschlossen.

Sanfter Wind auf der Haut,

Himmlisch

Sonntag, 4. August 2024

#008.1 Auguste Elvira

 

#008.1 Auguste Elvira

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und meiner Geschichten. :-)



Regelmäßige Leser*innen dieses Blogs kennen Elvira Schulze bereits.
Eigentlich heißt sie Auguste Elvira Schulze und wohnt schon sehr lange im Erdgeschoss links. Hier werden jetzt ein paar Geheimnisse der
neugierigen älteren Dame gelüftet.

August-Hitze


Es ist noch früh am Morgen, trotzdem spüre ich in den Knochen, dass es ein heißer Tag werden wird. Die Sommer der letzten Jahre haben sich verändert. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich lebe schon sehr lange auf dieser Erde.

Mein Haar ist grau-weiß und hat über die Jahre Fülle eingebüßt. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, erkenne ich mich selbst manchmal nicht, so viele Falten haben sich in die Haut eingegraben. Wo ist das Kind geblieben, das nach dem Krieg in den Trümmern gespielt hat? Oder die junge Frau, die einmal Träume hatte?

Solche trüben Gedanken verscheuche ich gerne, indem ich morgens mein kleines Küchenradio einschalte. Ein Sender, der viel Schlagermusik spielt, lenkt mich ab. Die stündlichen Nachrichten blende ich gerne aus. Vieles, was berichtet wird, finde ich merkwürdig bis beängstigend.

Früher habe ich gelernt, was eine gute Haushaltsführung ausmacht. Damals war ich stolz, einen Kurs für angehende Hausfrauen besuchen zu dürfen. Meine Mutter hatte mir während meiner Kindheit vieles beigebracht. Heutzutage ist dieses Wissen in großen Teilen verloren gegangen. Die jungen Frauen interessieren sich meistens gar nicht dafür und wollen alle studieren und arbeiten. Familie und Haushalt sind für sie unwichtig geworden. Die ganze Welt ist irgendwann durcheinandergeraten. Wann es  angefangen hat, kann ich gar nicht so genau sagen.

In diesem Haus passe ich darauf auf, dass alles seine Ordnung hat. Ich weiß genau, wer sich nicht an den Treppenhaus-Putzplan hält oder diese Aufgabe schlampig erledigt. Diese Nachbarn und besonders Nachbarinnen werden von mir zur Rede gestellt. Auch die Müll-Messies kann ich gar nicht leiden. Warum schmeißen Leute Kartoffelschalen und benutzte Kaffeefilter in die Papiertonne? So etwas treibt meinen Blutdruck hoch.

Es ist 8.00 Uhr und die Kaffeemaschine blubbert zu der Schlagermusik im Radio. Auf der geblümten Kunststoff-Tischdecke meines Küchentisches liegt eine bunte Zeitschrift, die ich mir gestern beim Einkaufen gegönnt habe. Leider bekomme ich nur eine kleine Rente und muss mir mein Geld gut einteilen.

Mein Egon ist schon seit vielen Jahren verstorben. Elvira und Egon, wir waren ein glückliches Paar in den 60er-Jahren. Ich habe stets darauf geachtet, dass man mich Elvira und nicht Auguste nennt. Mein erster Name sollte an meinen Großvater August erinnern. Diesen Mann habe ich nie kennengelernt. Hinter vorgehaltener Hand wurde geflüstert, er sei ein Nazi gewesen und der Krieg habe ihn irgendwo in den Weiten Russlands verschlungen. Mehr wurde mir dazu nicht berichtet. Die Familie war damals sehr schweigsam.

Im Treppenhaus rumpelt und klirrt es.

„Verdammter Mist“, schallt eine männliche Stimme dumpf durch meine Wohnungstür.

Ich gehe leise in den Flur und schaue durch den Spion. Anscheinend zieht eine neue Nachbarin oder ein neuer Nachbar in die obere leerstehende Wohnung ein. Ein Mann steht am Treppenabsatz. Ihm ist offensichtlich etwas heruntergefallen. Ein Schweißfilm glänzt auf seinem verzerrten Gesicht.

Mein Telefon klingelt und ich muss den Beobachtungsposten räumen, denn das dunkelgrüne Telefon mit dem Samtüberzug ist mit einer Schnur fest mit der Wohnzimmerwand verbunden. Wer ruft so früh morgens an? Das passiert äußerst selten.

„Schulze.“

„Mama“, dann eine Pause am anderen Ende.

Mein Herz fängt an zu rasen. Meine Tochter Vivi ist aus dem Leben von Egon und mir verschwunden, als sie 17 Jahre alt war. Damals herrschte Teenagerterror und mehr als einmal hatte sie uns an den Kopf geworfen, dass sie unsere Spießigkeit nicht aushalten würde. Sie hatte regelmäßig die Schule geschwänzt, die Nächte mit zwielichtigen Gestalten durchgefeiert und wahrscheinlich auch Drogen konsumiert. Ab und zu hatte die Polizei Vivi am Wochenende irgendwo aufgegriffen und sie nach Hause gebracht. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte ich andere Pläne für sie geschmiedet. Das Abitur sollte sie bestehen, dann an der Universität einen guten Mann finden und mit ihm eine Familie gründen. Enkel waren in diesem Szenario fest eingeplant.

Aber es war ganz anders gekommen. Sie war irgendwann einfach abgehauen. Die Polizei spürte sie Wochen später in Berlin auf. Sie lebte mit anderen Versagern in einem Abbruchhaus und wollte nicht mehr zu uns zurück. Damals war ich sehr verzweifelt. Egon fuhr nach Berlin und organisierte einen Platz in einer Wohngruppe für Jugendliche. Als sie 18 wurde, endete der Kontakt und wir hörten gar nichts mehr von ihr. Egon brach es das Herz. Ich vermute, dass er deshalb so früh verstorben ist.

Diese Bilder aus der Vergangenheit liefen vor meinem geistigen Auge ab, als dieses kleine Wort Mama ausgesprochen worden war.

„Vivi, wo bist du?“

„Gar nicht so weit von dir entfernt. Ich würde mich gerne mit dir treffen, aber nicht bei dir zu Hause.“

Ich schlucke und frage mich, wie meine Tochter wohl aussieht.

„Gut, das können wir machen. Wo wollen wir uns treffen?“ Immer noch rast mein Herz.

„In dem Kaufhaus-Café in der Stadt, passt 10.00 Uhr bei dir? Abends fahre ich wieder weg.“

„Gut, das schaffe ich mit dem Bus. Wie geht es Dir, Kind?“

„Das besprechen wir später, bis dann.“

Es tutet im Hörer, sie hat aufgelegt.

Wieder sind Geräusche im Treppenhaus zu hören, aber es interessiert mich gar nicht mehr. Mein Kopf füllt sich mit vernebelten Bildern aus der Vergangenheit. Aus dem Radio plärrt Schlagergesang, den ich gerade nicht ertragen kann. Das Radio wird abgeschaltet und ich sitze am Küchentisch und betrachte durch eine innere Nebelwand das Blumenmuster auf der Tischdecke.

Vivi, Vivi, Vivi ... Immer wieder kreist dieser Name durch meinen Kopf.

Die Sonne brennt und am frühen Nachmittag kehre ich in meine Wohnung zurück. Auf dem Hof steht ein kleiner Lastwagen, anscheinend ist der Einzug noch in vollem Gange. Der Kater Spike liegt neben der Eingangstür und lässt von einer unbekannten Frau mittleren Alters kraulen. Diese Szene gibt mir einen Stich. Vivi und sie könnten ehemalige Klassenkameradinnen sein. Aber meine Tochter hat andere Pläne, als in der Nähe ihrer Mutter zu sein. Seitdem sie ein Teenager war, wollte sie nur weg von ihren Eltern.

„Guten Tag, ich bin ihre neue Nachbarin.“

„Elvira Schulze, ich wohne im Erdgeschoss“, Schweiß rinnt bei diesen Worten mein Gesicht herunter. Mir ist schwindelig.

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, man sieht sich.“ Sie steht auf und geht zu dem Fahrzeug auf dem Hof.

Erleichtert schließe ich meine Wohnungstür und hole mir in der Küche ein Glas Wasser. Wieder nehme am Küchentisch Platz. Das war schon früher der Ort, wo ich mich meistens aufgehalten habe.

Vivi will nach Amerika auswandern, das hat sie mir vorhin eröffnet. Sie erzählte mir, dass sie mit Anfang 20 ihren Schulabschluss nachgeholt und danach sogar ein Studium abgeschlossen hat. Sie wollte damals keinen Kontakt zu uns aufnehmen, zu viel war in ihrer Wahrnehmung in ihrer Kindheit schiefgelaufen. Sie wollte ihre Mutter und ihren Vater einfach hinter sich lassen, so als ob wir nie existiert hätten. Das tut mir besonders weh. Aber zumindest haben wir uns heute ausgesprochen und wir werden wahrscheinlich ab und zu telefonieren, wenn sie in Amerika lebt. Das hat sie mir fest  versprochen. Sie erzählte, dass sie die Vergangenheit mit einer Psychologin aufgearbeitet hätte. Ich musste mir auf die Zunge beißen, weil das Wort Seelenklempner sonst gefallen wäre. Ich habe noch nie verstanden, wozu solche Leute gebraucht werden. In meiner Generation gibt es das nicht, dass Menschen sich auf die Couch legen und einer fremden Person wirres Zeug erzählen. Vivi hat eine eigene Meinung dazu. Sie sagte vorhin, dass Menschen in meinem Alter, die die Nachkriegsjahre in ihrer frühen Kindheit erlebt haben, sehr viel verdrängt und aufgrund dessen ihren Kindern seelische Wunden zugefügt hätten. Welche Wunden frage ich mich? Vivi hatte doch eine sorglose Kindheit ohne Trümmerwüsten und immer mit einem gut gefüllten Kühlschrank.

Langsam komme ich an der Stelle an, als heute Morgen das Telefon klingelte. Heute ist Waschtag und ich bin durch den Ausflug in die Stadt richtig in zeitlichem Verzug.

Ich erhebe mich von meinem Stuhl, räume das gebrauchte Glas in die Spüle und hole die Wäsche aus dem Korb im Bad. Vivi und Amerika hin oder her, das Haushalt muss erledigt werden. 




Liebe Leserinnen und Leser,

diese privaten Einblicke in das Leben von Frau Schulze sind ein Teil meines aktuellen Buchprojektes. In der Geschichten-Sammlung werden einige Figuren dieses Blogs auftauchen. Ich werde Euch mit zwölf Geschichten in die Welt von Kater Spike entführen. So ist der Plan, der stetig voranschreitet. Es braucht noch etwas Zeit.

Genießt den Sommer und spannende Bücher in der Sonne oder im Schatten.

Bis bald

G. Heiser 

Fortsetzung folgt



 


Sonntag, 19. Mai 2024

#000.15 – Blaue Netze

#000.15 – Blaue Netze


Die Fischer mit den bräunlichen Hemden

stehen mit großen Gesten am Bootsrand,

reden laut,

so dass es einem ins Trommelfell haut.

Das Geschrei will gar nicht enden.

Es ist schwer,

sich als einzelner kleiner Fisch abzuwenden,

von diesem unangenehmen kreischenden Rauschen.

Erstaunlicherweise sammeln sich rund um das Boot

immer mehr Fische, um diesem Schwall

aus viel Lärm um Nichts

zu lauschen.

 

Blaue Netze werden ausgeworfen,

gewoben aus längst Vergangenem,

Angst, Lügen und

zugespitzten halben Sachen.

Die Fischer verfolgen damit ihr ureigenstes Ziel,

möglichst viele Fische

in die ausgeworfenen blauen Netze zu locken,

und ihren Fang dann dafür zu nutzen,

alles außerhalb ihres Weltbildes wegzuputzen,

besonders auf bunte Fische haben sie es abgesehen,

sie sollen möglichst schnell hier verschwinden

und keinen Weg zurück in ihren aktuellen Lebensraum finden.

Eher rechts schwimmende Wasserbewohner,

gesichtslos, blass, formbar und ohne eigene Meinung

wollen die schreienden Fischer

in ihrem Gewässer haben.

Die schwimmenden Gefangenen sollen nicht klagen

und alles tun, was die Braunhemden ihnen sagen.

 

Vielfalt, Buntheit und Freude werden dann abgeschafft,

Das Leben im Wasser mutiert

in eine dunkle Vergangenheit

aus Dumpfheit, Dummheit und

Schmoren im eigenen Saft.

Der Fortschritt findet in anderen Fluten statt,

stattdessen Hetze, Hass und viel Neid,

alles ohne Zukunft und Kraft.

 

Noch könnt Ihr Fische den Netzen entgehen,

lasst die Fischer einfach auf ihrem Boot stehen,

schwimmt davon,

streitet lieber respektvoll miteinander

um die Zukunft und die besten Ideen,

dann werden wir sehen,

was möglich ist

in unseren lebendigen bunten Seen.

Fischer mit blauen Netzen werden Mangels Fang zurückrudern müssen

zu ihren kleinen bedeutungslosen rückwärtsgewandten Enklaven,

hoffentlich auf Nimmerwiedersehen.

 

Bitte geht alle am 9. Juni 2024 zur Europawahl,

für Demokratie und Vielfalt

 

Liebe Leserinnen und Leser,

momentan bin ich mit einem neuen Buch-Projekt beschäftigt und plane die Veröffentlichung Ende des Jahres. Trotzdem wird ab und zu hier ein neuer Blog-Beitrag erscheinen.

Einen wunderschönen und bunten Frühling wünsche ich Euch.

Die Autorin G. Heiser