Sonntag, 4. August 2024

#008.1 Auguste Elvira

 

#008.1 Auguste Elvira

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und meiner Geschichten. :-)



Regelmäßige Leser*innen dieses Blogs kennen Elvira Schulze bereits.
Eigentlich heißt sie Auguste Elvira Schulze und wohnt schon sehr lange im Erdgeschoss links. Hier werden jetzt ein paar Geheimnisse der
neugierigen älteren Dame gelüftet.

August-Hitze


Es ist noch früh am Morgen, trotzdem spüre ich in den Knochen, dass es ein heißer Tag werden wird. Die Sommer der letzten Jahre haben sich verändert. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich lebe schon sehr lange auf dieser Erde.

Mein Haar ist grau-weiß und hat über die Jahre Fülle eingebüßt. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, erkenne ich mich selbst manchmal nicht, so viele Falten haben sich in die Haut eingegraben. Wo ist das Kind geblieben, das nach dem Krieg in den Trümmern gespielt hat? Oder die junge Frau, die einmal Träume hatte?

Solche trüben Gedanken verscheuche ich gerne, indem ich morgens mein kleines Küchenradio einschalte. Ein Sender, der viel Schlagermusik spielt, lenkt mich ab. Die stündlichen Nachrichten blende ich gerne aus. Vieles, was berichtet wird, finde ich merkwürdig bis beängstigend.

Früher habe ich gelernt, was eine gute Haushaltsführung ausmacht. Damals war ich stolz, einen Kurs für angehende Hausfrauen besuchen zu dürfen. Meine Mutter hatte mir während meiner Kindheit vieles beigebracht. Heutzutage ist dieses Wissen in großen Teilen verloren gegangen. Die jungen Frauen interessieren sich meistens gar nicht dafür und wollen alle studieren und arbeiten. Familie und Haushalt sind für sie unwichtig geworden. Die ganze Welt ist irgendwann durcheinandergeraten. Wann es  angefangen hat, kann ich gar nicht so genau sagen.

In diesem Haus passe ich darauf auf, dass alles seine Ordnung hat. Ich weiß genau, wer sich nicht an den Treppenhaus-Putzplan hält oder diese Aufgabe schlampig erledigt. Diese Nachbarn und besonders Nachbarinnen werden von mir zur Rede gestellt. Auch die Müll-Messies kann ich gar nicht leiden. Warum schmeißen Leute Kartoffelschalen und benutzte Kaffeefilter in die Papiertonne? So etwas treibt meinen Blutdruck hoch.

Es ist 8.00 Uhr und die Kaffeemaschine blubbert zu der Schlagermusik im Radio. Auf der geblümten Kunststoff-Tischdecke meines Küchentisches liegt eine bunte Zeitschrift, die ich mir gestern beim Einkaufen gegönnt habe. Leider bekomme ich nur eine kleine Rente und muss mir mein Geld gut einteilen.

Mein Egon ist schon seit vielen Jahren verstorben. Elvira und Egon, wir waren ein glückliches Paar in den 60er-Jahren. Ich habe stets darauf geachtet, dass man mich Elvira und nicht Auguste nennt. Mein erster Name sollte an meinen Großvater August erinnern. Diesen Mann habe ich nie kennengelernt. Hinter vorgehaltener Hand wurde geflüstert, er sei ein Nazi gewesen und der Krieg habe ihn irgendwo in den Weiten Russlands verschlungen. Mehr wurde mir dazu nicht berichtet. Die Familie war damals sehr schweigsam.

Im Treppenhaus rumpelt und klirrt es.

„Verdammter Mist“, schallt eine männliche Stimme dumpf durch meine Wohnungstür.

Ich gehe leise in den Flur und schaue durch den Spion. Anscheinend zieht eine neue Nachbarin oder ein neuer Nachbar in die obere leerstehende Wohnung ein. Ein Mann steht am Treppenabsatz. Ihm ist offensichtlich etwas heruntergefallen. Ein Schweißfilm glänzt auf seinem verzerrten Gesicht.

Mein Telefon klingelt und ich muss den Beobachtungsposten räumen, denn das dunkelgrüne Telefon mit dem Samtüberzug ist mit einer Schnur fest mit der Wohnzimmerwand verbunden. Wer ruft so früh morgens an? Das passiert äußerst selten.

„Schulze.“

„Mama“, dann eine Pause am anderen Ende.

Mein Herz fängt an zu rasen. Meine Tochter Vivi ist aus dem Leben von Egon und mir verschwunden, als sie 17 Jahre alt war. Damals herrschte Teenagerterror und mehr als einmal hatte sie uns an den Kopf geworfen, dass sie unsere Spießigkeit nicht aushalten würde. Sie hatte regelmäßig die Schule geschwänzt, die Nächte mit zwielichtigen Gestalten durchgefeiert und wahrscheinlich auch Drogen konsumiert. Ab und zu hatte die Polizei Vivi am Wochenende irgendwo aufgegriffen und sie nach Hause gebracht. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte ich andere Pläne für sie geschmiedet. Das Abitur sollte sie bestehen, dann an der Universität einen guten Mann finden und mit ihm eine Familie gründen. Enkel waren in diesem Szenario fest eingeplant.

Aber es war ganz anders gekommen. Sie war irgendwann einfach abgehauen. Die Polizei spürte sie Wochen später in Berlin auf. Sie lebte mit anderen Versagern in einem Abbruchhaus und wollte nicht mehr zu uns zurück. Damals war ich sehr verzweifelt. Egon fuhr nach Berlin und organisierte einen Platz in einer Wohngruppe für Jugendliche. Als sie 18 wurde, endete der Kontakt und wir hörten gar nichts mehr von ihr. Egon brach es das Herz. Ich vermute, dass er deshalb so früh verstorben ist.

Diese Bilder aus der Vergangenheit liefen vor meinem geistigen Auge ab, als dieses kleine Wort Mama ausgesprochen worden war.

„Vivi, wo bist du?“

„Gar nicht so weit von dir entfernt. Ich würde mich gerne mit dir treffen, aber nicht bei dir zu Hause.“

Ich schlucke und frage mich, wie meine Tochter wohl aussieht.

„Gut, das können wir machen. Wo wollen wir uns treffen?“ Immer noch rast mein Herz.

„In dem Kaufhaus-Café in der Stadt, passt 10.00 Uhr bei dir? Abends fahre ich wieder weg.“

„Gut, das schaffe ich mit dem Bus. Wie geht es Dir, Kind?“

„Das besprechen wir später, bis dann.“

Es tutet im Hörer, sie hat aufgelegt.

Wieder sind Geräusche im Treppenhaus zu hören, aber es interessiert mich gar nicht mehr. Mein Kopf füllt sich mit vernebelten Bildern aus der Vergangenheit. Aus dem Radio plärrt Schlagergesang, den ich gerade nicht ertragen kann. Das Radio wird abgeschaltet und ich sitze am Küchentisch und betrachte durch eine innere Nebelwand das Blumenmuster auf der Tischdecke.

Vivi, Vivi, Vivi ... Immer wieder kreist dieser Name durch meinen Kopf.

Die Sonne brennt und am frühen Nachmittag kehre ich in meine Wohnung zurück. Auf dem Hof steht ein kleiner Lastwagen, anscheinend ist der Einzug noch in vollem Gange. Der Kater Spike liegt neben der Eingangstür und lässt von einer unbekannten Frau mittleren Alters kraulen. Diese Szene gibt mir einen Stich. Vivi und sie könnten ehemalige Klassenkameradinnen sein. Aber meine Tochter hat andere Pläne, als in der Nähe ihrer Mutter zu sein. Seitdem sie ein Teenager war, wollte sie nur weg von ihren Eltern.

„Guten Tag, ich bin ihre neue Nachbarin.“

„Elvira Schulze, ich wohne im Erdgeschoss“, Schweiß rinnt bei diesen Worten mein Gesicht herunter. Mir ist schwindelig.

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, man sieht sich.“ Sie steht auf und geht zu dem Fahrzeug auf dem Hof.

Erleichtert schließe ich meine Wohnungstür und hole mir in der Küche ein Glas Wasser. Wieder nehme am Küchentisch Platz. Das war schon früher der Ort, wo ich mich meistens aufgehalten habe.

Vivi will nach Amerika auswandern, das hat sie mir vorhin eröffnet. Sie erzählte mir, dass sie mit Anfang 20 ihren Schulabschluss nachgeholt und danach sogar ein Studium abgeschlossen hat. Sie wollte damals keinen Kontakt zu uns aufnehmen, zu viel war in ihrer Wahrnehmung in ihrer Kindheit schiefgelaufen. Sie wollte ihre Mutter und ihren Vater einfach hinter sich lassen, so als ob wir nie existiert hätten. Das tut mir besonders weh. Aber zumindest haben wir uns heute ausgesprochen und wir werden wahrscheinlich ab und zu telefonieren, wenn sie in Amerika lebt. Das hat sie mir fest  versprochen. Sie erzählte, dass sie die Vergangenheit mit einer Psychologin aufgearbeitet hätte. Ich musste mir auf die Zunge beißen, weil das Wort Seelenklempner sonst gefallen wäre. Ich habe noch nie verstanden, wozu solche Leute gebraucht werden. In meiner Generation gibt es das nicht, dass Menschen sich auf die Couch legen und einer fremden Person wirres Zeug erzählen. Vivi hat eine eigene Meinung dazu. Sie sagte vorhin, dass Menschen in meinem Alter, die die Nachkriegsjahre in ihrer frühen Kindheit erlebt haben, sehr viel verdrängt und aufgrund dessen ihren Kindern seelische Wunden zugefügt hätten. Welche Wunden frage ich mich? Vivi hatte doch eine sorglose Kindheit ohne Trümmerwüsten und immer mit einem gut gefüllten Kühlschrank.

Langsam komme ich an der Stelle an, als heute Morgen das Telefon klingelte. Heute ist Waschtag und ich bin durch den Ausflug in die Stadt richtig in zeitlichem Verzug.

Ich erhebe mich von meinem Stuhl, räume das gebrauchte Glas in die Spüle und hole die Wäsche aus dem Korb im Bad. Vivi und Amerika hin oder her, das Haushalt muss erledigt werden. 




Liebe Leserinnen und Leser,

diese privaten Einblicke in das Leben von Frau Schulze sind ein Teil meines aktuellen Buchprojektes. In der Geschichten-Sammlung werden einige Figuren dieses Blogs auftauchen. Ich werde Euch mit zwölf Geschichten in die Welt von Kater Spike entführen. So ist der Plan, der stetig voranschreitet. Es braucht noch etwas Zeit.

Genießt den Sommer und spannende Bücher in der Sonne oder im Schatten.

Bis bald

G. Heiser 

Fortsetzung folgt



 


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