#008.1 Auguste Elvira
Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und meiner Geschichten. :-)
Regelmäßige
Leser*innen dieses Blogs kennen Elvira Schulze bereits.
Eigentlich heißt sie Auguste Elvira Schulze und wohnt schon sehr lange im
Erdgeschoss links. Hier werden jetzt ein paar Geheimnisse der
neugierigen älteren Dame gelüftet.
August-Hitze
Es ist
noch früh am Morgen, trotzdem spüre ich in den Knochen, dass es ein heißer Tag
werden wird. Die Sommer der letzten Jahre haben sich verändert. Ich weiß, wovon
ich spreche, denn ich lebe schon sehr lange auf dieser Erde.
Mein
Haar ist grau-weiß und hat über die Jahre Fülle eingebüßt. Wenn ich mich im
Spiegel betrachte, erkenne ich mich selbst manchmal nicht, so viele Falten
haben sich in die Haut eingegraben. Wo ist das Kind geblieben, das nach dem
Krieg in den Trümmern gespielt hat? Oder die junge Frau, die einmal Träume
hatte?
Solche
trüben Gedanken verscheuche ich gerne, indem ich morgens mein kleines
Küchenradio einschalte. Ein Sender, der viel Schlagermusik spielt, lenkt mich
ab. Die stündlichen Nachrichten blende ich gerne aus. Vieles, was berichtet
wird, finde ich merkwürdig bis beängstigend.
Früher
habe ich gelernt, was eine gute Haushaltsführung ausmacht. Damals war ich
stolz, einen Kurs für angehende Hausfrauen besuchen zu dürfen. Meine Mutter
hatte mir während meiner Kindheit vieles beigebracht. Heutzutage ist dieses
Wissen in großen Teilen verloren gegangen. Die jungen Frauen interessieren sich
meistens gar nicht dafür und wollen alle studieren und arbeiten. Familie und
Haushalt sind für sie unwichtig geworden. Die ganze Welt ist irgendwann
durcheinandergeraten. Wann es angefangen hat, kann ich gar nicht so genau
sagen.
In
diesem Haus passe ich darauf auf, dass alles seine Ordnung hat. Ich weiß genau,
wer sich nicht an den Treppenhaus-Putzplan hält oder diese Aufgabe schlampig
erledigt. Diese Nachbarn und besonders Nachbarinnen werden von mir zur Rede
gestellt. Auch die Müll-Messies kann ich gar nicht leiden. Warum schmeißen
Leute Kartoffelschalen und benutzte Kaffeefilter in die Papiertonne? So etwas
treibt meinen Blutdruck hoch.
Es ist
8.00 Uhr und die Kaffeemaschine blubbert zu der Schlagermusik im Radio. Auf der
geblümten Kunststoff-Tischdecke meines Küchentisches liegt eine bunte
Zeitschrift, die ich mir gestern beim Einkaufen gegönnt habe. Leider bekomme
ich nur eine kleine Rente und muss mir mein Geld gut einteilen.
Mein
Egon ist schon seit vielen Jahren verstorben. Elvira und Egon, wir waren ein
glückliches Paar in den 60er-Jahren. Ich habe stets darauf geachtet, dass man
mich Elvira und nicht Auguste nennt. Mein erster Name sollte an meinen
Großvater August erinnern. Diesen Mann habe ich nie kennengelernt. Hinter
vorgehaltener Hand wurde geflüstert, er sei ein Nazi gewesen und der Krieg habe
ihn irgendwo in den Weiten Russlands verschlungen. Mehr wurde mir dazu nicht
berichtet. Die Familie war damals sehr schweigsam.
Im
Treppenhaus rumpelt und klirrt es.
„Verdammter
Mist“, schallt eine männliche Stimme dumpf durch meine Wohnungstür.
Ich
gehe leise in den Flur und schaue durch den Spion. Anscheinend zieht eine neue
Nachbarin oder ein neuer Nachbar in die obere leerstehende Wohnung ein. Ein
Mann steht am Treppenabsatz. Ihm ist offensichtlich etwas heruntergefallen. Ein
Schweißfilm glänzt auf seinem verzerrten Gesicht.
Mein
Telefon klingelt und ich muss den Beobachtungsposten räumen, denn das
dunkelgrüne Telefon mit dem Samtüberzug ist mit einer Schnur fest mit der
Wohnzimmerwand verbunden. Wer ruft so früh morgens an? Das passiert äußerst
selten.
„Schulze.“
„Mama“,
dann eine Pause am anderen Ende.
Mein
Herz fängt an zu rasen. Meine Tochter Vivi ist aus dem Leben von Egon und mir
verschwunden, als sie 17 Jahre alt war. Damals herrschte Teenagerterror und
mehr als einmal hatte sie uns an den Kopf geworfen, dass sie unsere Spießigkeit
nicht aushalten würde. Sie hatte regelmäßig die Schule geschwänzt, die Nächte
mit zwielichtigen Gestalten durchgefeiert und wahrscheinlich auch Drogen
konsumiert. Ab und zu hatte die Polizei Vivi am Wochenende irgendwo
aufgegriffen und sie nach Hause gebracht. Als sie ein kleines Mädchen war,
hatte ich andere Pläne für sie geschmiedet. Das Abitur sollte sie bestehen,
dann an der Universität einen guten Mann finden und mit ihm eine Familie
gründen. Enkel waren in diesem Szenario fest eingeplant.
Aber
es war ganz anders gekommen. Sie war irgendwann einfach abgehauen. Die Polizei
spürte sie Wochen später in Berlin auf. Sie lebte mit anderen Versagern in
einem Abbruchhaus und wollte nicht mehr zu uns zurück. Damals war ich sehr
verzweifelt. Egon fuhr nach Berlin und organisierte einen Platz in einer Wohngruppe für Jugendliche. Als sie 18 wurde, endete der Kontakt und wir hörten
gar nichts mehr von ihr. Egon brach es das Herz. Ich vermute, dass er deshalb
so früh verstorben ist.
Diese
Bilder aus der Vergangenheit liefen vor meinem geistigen Auge ab, als dieses
kleine Wort Mama ausgesprochen worden war.
„Vivi,
wo bist du?“
„Gar
nicht so weit von dir entfernt. Ich würde mich gerne mit dir treffen, aber
nicht bei dir zu Hause.“
Ich
schlucke und frage mich, wie meine Tochter wohl aussieht.
„Gut,
das können wir machen. Wo wollen wir uns treffen?“ Immer noch rast mein Herz.
„In
dem Kaufhaus-Café in der Stadt, passt 10.00 Uhr bei dir? Abends fahre ich
wieder weg.“
„Gut,
das schaffe ich mit dem Bus. Wie geht es Dir, Kind?“
„Das
besprechen wir später, bis dann.“
Es
tutet im Hörer, sie hat aufgelegt.
Wieder
sind Geräusche im Treppenhaus zu hören, aber es interessiert mich gar nicht
mehr. Mein Kopf füllt sich mit vernebelten Bildern aus der Vergangenheit. Aus dem Radio plärrt Schlagergesang, den ich gerade nicht ertragen
kann. Das Radio wird abgeschaltet und ich sitze am Küchentisch und betrachte
durch eine innere Nebelwand das Blumenmuster auf der Tischdecke.
Vivi,
Vivi, Vivi ... Immer wieder kreist dieser Name durch meinen Kopf.
Die
Sonne brennt und am frühen Nachmittag kehre ich in meine Wohnung zurück. Auf
dem Hof steht ein kleiner Lastwagen, anscheinend ist der Einzug noch in vollem
Gange. Der Kater Spike liegt neben der Eingangstür und lässt von einer
unbekannten Frau mittleren Alters kraulen. Diese Szene gibt mir einen Stich.
Vivi und sie könnten ehemalige Klassenkameradinnen sein. Aber meine Tochter hat
andere Pläne, als in der Nähe ihrer Mutter zu sein. Seitdem sie ein Teenager
war, wollte sie nur weg von ihren Eltern.
„Guten
Tag, ich bin ihre neue Nachbarin.“
„Elvira
Schulze, ich wohne im Erdgeschoss“, Schweiß rinnt bei diesen Worten mein
Gesicht herunter. Mir ist schwindelig.
„Ich
wünsche Ihnen einen schönen Tag, man sieht sich.“ Sie steht auf und geht zu dem
Fahrzeug auf dem Hof.
Erleichtert
schließe ich meine Wohnungstür und hole mir in der Küche ein Glas Wasser.
Wieder nehme am Küchentisch Platz. Das war schon früher der Ort, wo ich mich
meistens aufgehalten habe.
Vivi
will nach Amerika auswandern, das hat sie mir vorhin eröffnet. Sie erzählte
mir, dass sie mit Anfang 20 ihren Schulabschluss nachgeholt und danach sogar
ein Studium abgeschlossen hat. Sie wollte damals keinen Kontakt zu uns
aufnehmen, zu viel war in ihrer Wahrnehmung in ihrer Kindheit schiefgelaufen.
Sie wollte ihre Mutter und ihren Vater einfach hinter sich lassen, so als ob
wir nie existiert hätten. Das tut mir besonders weh. Aber zumindest haben wir
uns heute ausgesprochen und wir werden wahrscheinlich ab und zu telefonieren,
wenn sie in Amerika lebt. Das hat sie mir fest versprochen. Sie erzählte, dass sie
die Vergangenheit mit einer Psychologin aufgearbeitet hätte. Ich musste mir auf
die Zunge beißen, weil das Wort Seelenklempner sonst gefallen wäre. Ich
habe noch nie verstanden, wozu solche Leute gebraucht werden. In meiner
Generation gibt es das nicht, dass Menschen sich auf die Couch legen und einer
fremden Person wirres Zeug erzählen. Vivi hat eine eigene Meinung dazu. Sie
sagte vorhin, dass Menschen in meinem Alter, die die Nachkriegsjahre in ihrer
frühen Kindheit erlebt haben, sehr viel verdrängt und aufgrund dessen ihren Kindern
seelische Wunden zugefügt hätten. Welche Wunden frage ich mich? Vivi hatte doch
eine sorglose Kindheit ohne Trümmerwüsten und immer mit einem gut gefüllten
Kühlschrank.
Langsam
komme ich an der Stelle an, als heute Morgen das Telefon klingelte. Heute ist
Waschtag und ich bin durch den Ausflug in die Stadt richtig in zeitlichem
Verzug.
Ich
erhebe mich von meinem Stuhl, räume das gebrauchte Glas in die Spüle und hole
die Wäsche aus dem Korb im Bad. Vivi und Amerika hin oder her, das Haushalt
muss erledigt werden.
Liebe
Leserinnen und Leser,
diese privaten
Einblicke in das Leben von Frau Schulze sind ein Teil meines aktuellen Buchprojektes.
In der Geschichten-Sammlung werden einige Figuren dieses Blogs auftauchen. Ich werde
Euch mit zwölf Geschichten in die Welt von Kater Spike entführen. So ist der
Plan, der stetig voranschreitet. Es braucht noch etwas Zeit.
Genießt
den Sommer und spannende Bücher in der Sonne oder im Schatten.
Bis
bald
G. Heiser
Fortsetzung folgt
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