Sonntag, 28. März 2021

#006.10 – Sarah – Insel in trüber See

 

#006.10 – Sarah – Insel in trüber See

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Insel in trüber See


 
Es war wieder Wochenende. Der Kater Spike spähte unter einen knospenden Busch und fuhr seine Tatze langsam aus. Es war weit und breit keine Maus zu sehen, aber Spike lag trotzdem auf der Lauer. Irgendwann würde das kleine Nagetier seine schützende Höhle verlassen, er hatte alle Zeit der Welt.

Sarah trat gerade durch die Haustür nach draußen und klapperte mit ihrem Schlüsselbund. Sie war auf dem Weg zum Supermarkt. Demnächst war Ostern und auch wenn Besuche wegen der Pandemie so gut wie nicht möglich waren, musste trotzdem der Kühlschrank aufgestockt werden. Sarah hatte noch überhaupt keine Idee, wie sie Ostern verbringen wollte. Die Steuererklärung stand auf der Liste der zu erledigenden Dinge, was für eine sehr langweilige Angelegenheit. Eine Radtour bei schönem Wetter war eine bessere Option für die freien Tage.

Wir werden sehen“, dachte Sarah, als sie den Schlüssel in das Fahrradschloss steckte. Nach ihrem Einkauf wollte sie unbedingt einen Brief an den Mann schreiben, dem sie seine verlorene Geldbörse zurückgeschickt hatte. Der altmodische Briefwechsel zwischen Hessen und Norddeutschland war einfach das Netteste, was gerade in Sarahs Leben passierte.

Wieder zu Hause angekommen, setzte Sarah sich gleich an ihren Schreibtisch. In der Küche arbeitete die Kaffeemaschine geräuschvoll vor sich hin.

Mein Briefpapier geht langsam zu Neige, so viele Briefe habe ich in den letzten fünf Jahren nicht mehr geschrieben“, gedankenverloren wanderte ihr Blick zu dem Blumenbild an der Wand.

Lieber Thomas,

schön, dass wir uns jetzt duzen. Dass Du mir von dem tanzenden Schweinchen im Baum vor Deinem Fenster geschrieben hast, werte ich als besonderen Vertrauensbeweis und weiß es zu schätzen. Obwohl wir uns bis jetzt persönlich noch nicht begegnet sind, habe ich das Gefühl, als würde ich Dich schon sehr lange kennen. Es ist auch ein bisschen unheimlich, finde ich.

Danke, dass Du mir ein kleines Update zu Deinem Wohnort gegeben hast. Das klang für mich alles trostlos: Nur noch ein kleines Programmkino, eine leer gefegte Altstadt ohne die üblichen Scharen von Studenten, geschlossene Trödel- und Buchläden und nicht zu vergessen die Jazz-Kneipe, in der gerade kein Musiker auftritt.

Damals ist mir übrigens aufgefallen, dass kein Cappuccino oder ähnliches auf der Getränkekarte stand. Der Gitarrist, mit dem ich seinerzeit dort war, trank eine Tasse Filterkaffee nach der anderen, ohne Minikeks natürlich. Irgendwie war alles sehr pur, die Getränke, die Gäste, die Musik und auf den zerkratzten, leicht klebrigen Holztischen standen maximal weiße Kerzen als Deko. Verstehst Du, was ich meine? Wahrscheinlich schon, weil wir anscheinend bei solchen Details auf einer Wellenlänge sind, was ich sehr spannend finde.

Du fragtest mich nach meinen Buch-Vorlieben. Im Grunde hast Du den Nagel auf den Kopf getroffen, bei mir stehen Rilke und Hesse neben tiefgründigen Krimis. Sind wir uns in einem früheren Leben schon einmal begegnet? Rilke und Hesse-Bücher wohnen schon lange mit mir zusammen. Ich würde sie aus der Wohnung retten, falls es brennen sollte. Meiner Meinung nach prägen Bücher das Weltbild ihrer Leserschaft. Ich kann beim Lesen alles um mich herum vergessen und komplett in eine Handlung oder einen Gedanken eintauchen.

Du schriebst, dass Du beruflich mit Büchern zu tun hast. Ich bin natürlich neugierig, mehr darüber zu erfahren. Bis jetzt habe ich Deinen Namen (noch) nicht bei der bekannten Suchmaschine im Internet eingegeben, obwohl ich ein- oder zweimal diesen Impuls hatte. Diese Kommunikation per Brief ist einfach entschleunigt und charmant, das Internet, so praktisch es für andere Belange auch sein mag, passt nicht dazu. Deshalb lege ich diesem Brief ein echtes ausgedrucktes Foto von mir bei, damit Du eine Vorstellung davon bekommst, mit wem Du es zu tun hast. Vielleicht hast Du ja auch eines für mich?

Auf Deinen nächsten Brief freue ich mich schon sehr. Die momentane komplizierte Welt da draußen wird durch Deine Briefe ein bisschen schöner und freundlicher.

Es grüßt Dich Deine Sarah

Sarah faltete das Papier langsam und legte es in einen Umschlag. Wenn es wieder möglich war, würde sie in dem hübschen Städtchen, in dem Thomas lebte, einen Kurzurlaub verbringen. Es fühlte sich an, als wäre ein innerer Magnet eingeschaltet worden. Er zog sie in frühere Zeiten der Sorglosigkeit und gleichzeitig in die Richtung neuer Horizonte.


 
Ihr fiel eine weitere Begebenheit von damals wieder ein. Bei einer Fahrt mit dem Stadtbus in jener Stadt hatte sie mit einem fremden Mann aus dem Nichts ein tiefgründiges philosophisches Gespräch über das Leben geführt. An Einzelheiten konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber der Mann bedankte sich beim Aussteigen bei ihr für den wundervollen Gedankenaustausch, den er niemals vergessen würde. Die Atmosphäre war ihr aber noch lebhaft in Erinnerung geblieben, alle anderen Fahrgäste und das Alltägliche war für diese kurze Zeitspanne ihres Gespräches ausgeblendet gewesen.

Diese Stadt hat einen ganz eigenen Zauber“, dachte sie, „und ich war so lange nicht mehr dort. Das werde ich ändern.“

Pat Metheny: Dream of the Return

Fortsetzung folgt

Montag, 22. März 2021

#006.9 – Sarah – ein tanzendes Schweinchen im Baum

 

#006.9 – Sarah – ein tanzendes Schweinchen im Baum


Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Ein tanzendes Schweinchen im Baum


Die letzten Zuckungen des Winters legten sich auf das Gemüt der Menschen. Ständig war es kalt und nass, außerdem gab es rund um die Uhr Nachrichten über die Pandemie. Die Impfungen verliefen schleppend und so mancher Politiker hatte sich im Zuge der Weltnotlage an medizinischer Ausrüstung bereichert. Das war besonders bitter für die Teile der Bevölkerung, die ihre berufliche Existenz verloren hatten oder sehr gefährdet waren, dass genau das demnächst passieren würde. Auch in dem Mehrfamilienhaus, in dem Sarah und der Kater Spike lebten, gab es Bewohnerinnen und Bewohner, die viele Sorgen hatten.

Sarah kämpfte innerlich gegen die schlechte allgemeine Stimmung an. Sie zwang sich immer wieder dazu, ihre Aufmerksamkeit auf die kleinen positiven Lichtblicke des Alltags zu lenken. Einer davon war sicherlich der Austausch altmodischer Briefe mit einem netten Mann aus Hessen. Sie hatte seine Geldbörse auf einem Supermarkt-Parkplatz gefunden und ihm zurück geschickt. Da diesen Briefe die Patina des letzten Jahrhunderts anhaftete, hatte Sarah ihre Neugierde bezwungen und darauf verzichtet, bei einer Suchmaschine im Internet mehr über diesen Mann herauszufinden. Diesen entschleunigten Austausch wollte sie nicht durch das turboschnelle Internet stören.

Wieder lag an einem Dienstag Abend ein Leinenpapier-Umschlag von Thomas Schneider in Sarahs Briefkasten. Sarah nahm den Brief behutsam an sich und freute sich darauf, gleich seine Zeilen zu lesen. In ihrem Kühlschrank wartete noch eine leckere Gemüsesuppe von gestern und ein Rest Weißwein vom Wochenende.

Herr Müller aus dem 1. Stock kam ihr auf dem Weg zu ihrer Wohnung entgegen und schaute leer durch sie hindurch. Herr Müller hatte seine Arbeit verloren und verließ seine Wohnung seitdem sehr selten. Sein Strickpullover war fleckig und er trug eine volle Kiste mit Altpapier. Es war ein sehr deprimierender Anblick, besonders seine glanzlosen Augen. Sarah grüßte ihn trotzdem freundlich, erhielt aber keine Antwort. „Ist Herr Müller dem Alkohol verfallen?“ überlegte Sarah.

Schnell ließ Sarah ihre Wohnungstür ins Schloss fallen. Sie freute sich auf ihre Brief-Abendlektüre.

Wieder hatte Herr Schneider  Leinenbriefpapier benutzt und den Brief mit Tinte geschrieben. Wahrscheinlich gab es in der Umgebung dieses Mannes keine banalen Kugelschreiber aus Plastik mit Werbeaufdruck. Wie er wohl aussah? Sarah stellte sich einen großen schlanken Mann mit gepflegter Kleidung und frisch geputzten Lederschuhen vor. Den Impuls, doch schnell die Suchmaschine im Internet aufzurufen, unterdrückte sie.

Liebe Sarah,

über Ihre Antwort auf meinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Die Idee, Ihnen regelmäßig zu schreiben, gefällt mir sehr gut. Alle aktuellen Medien nutze ich natürlich auch, aber Briefe zu schreiben, fühlt sich ganz anders an, als zum Beispiel eine Mail zu verfassen.

Gerne berichte ich Ihnen, was sich in meiner Heimatstadt so tut. In den Pandemie-Zeiten ist es eher traurig hier. Sie schrieben von Ihren damaligen lustigen Abenden in den Studenten-Kneipen mit Ihrer Freundin, ja, die Kneipen sind einfach zu und verwaist. Auf den Straßen und in der historischen Innenstadt mit den Fachwerkhäusern sind wenige Menschen unterwegs. Die beiden Drogeriemärkte dort haben geöffnet, ansonsten ist alles zu. Ein Laden, der Trödel und alte Möbel verkauft hat, hat aufgegeben. Den könnten Sie jetzt mieten, wenn Sie wollten.

Die Jazz-Kneipe ist zwar geschlossen, aber ich hatte neulich gehört, dass die Pächter, wenn es möglich ist, wieder öffnen möchten. In der Tat bin ich vor den Corona-bedingten Schließungen öfter dort gewesen. Und Sie haben recht: Die Musiker auf der kleinen Bühne schienen wirklich mit Ihren Instrumenten verwachsen zu sein.Ich finde es sehr bemerkenswert, wie Sie Ihre Wahrnehmungen beschreiben. Es gibt nicht viele Menschen, die ihre Sichtweise auf ihre Umgebung so ausdrücken wie Sie.

Gehören Sie auch zu den Personen, die versuchen, Muster in einem ausgetretenen alten Straßenpflaster zu erkennen? Oder Bilder in vorbeiziehenden Wolken? Bitte lachen Sie mich nicht aus, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich in der Anordnung der Zweige und Blätter bei einem Baum vor meinem Wohnzimmerfenster letzten Sommer ein lustig hüpfendes Schweinchen erkennen konnte. Obwohl wir uns gar nicht persönlich kennen, vermute ich, dass Sie verstehen, wie ich das meine.

Was die kleinen Kinos betrifft, muss ich Ihnen leider schreiben, dass nur eines davon noch existiert. Ob es nach dem Lockdown wieder öffnen wird, ist nicht sicher, da es seit ein paar Jahren ein neu gebautes modernes Kino gibt, in dem alle Blockbuster laufen. Die Filme, die Preise gewinnen, die keiner kennt (auch sehr schön von Ihnen formuliert), werden vielleicht demnächst nicht mehr in unserer Stadt gezeigt.

Natürlich bin ich neugierig darauf, mehr über Sie zu erfahren. Zum Beispiel interessiert mich, welche Art Bücher Sie mögen. Beruflich habe ich mit Büchern zu tun, deshalb ist das immer spannend für mich. Lesen Sie psychologisch tiefgründige Krimis oder Gedichte von Rilke? Ich vermute, dass Sie beides mögen. Liege ich mit meiner Einschätzung richtig?

Ich freue mich darauf, bald wieder von Ihnen zu lesen.

Es grüßt Sie aus dem (Lockdown)-verschlafenen historischen Studenten-Städtchen ganz herzlich

Thomas Schneider

PS Was halten Sie davon, wenn wir das steife „Sie“ hinter uns lassen und zum vertrauteren „Du“ übergehen? Schließlich habe ich Dir schon von dem tanzenden Schweinchen in dem Baum vor meinem Fenster erzählt ….


Sarah strich versunken über das sorgfältig beschriebene Leinenpapier. Ihr Blick wanderte zu ihrem Bücherregal. Dort standen genau die Art Bücher, die er in seinem Brief beschrieben hatte, altmodische Bände mit Blumenranken von Rilke neben Krimis von skandinavischen und englischen Autoren. Außerdem suchte sie in ihrer Umgebung tatsächlich meistens nach Bildern oder Mustern. Das hatte sie allerdings noch nie jemandem erzählt. Der Mann hatte mit seinen Vermutungen komplett ins Schwarze getroffen. Wie konnte das sein?

In den nächsten Tagen würde sie auf seinen Brief antworten. Gab es so etwas wie Seelenverwandtschaft?

In der Küche schenkte Sarah sich den Rest Weißwein aus dem Kühlschrank ein und nippte nachdenklich an dem Glas. Sie hatte gerade das Gefühl, etwas besonders Wertvolles gefunden zu haben, einen Bernstein bei einem Spaziergang am Strand, in dem ein Insekt eingeschlossen war, inmitten unzähliger zersplitterter Muscheln.



I Believe in Little Things — Diana Panton

Fortsetzung folgt

Sonntag, 14. März 2021

#006.8 – Sarah - Briefe

 

#006.8 – Sarah - Briefe


Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Briefe


An einem Samstag vor zwei Wochen war der Parkplatz vor dem Supermarkt voller Autos gewesen. Zum Glück war Sarah mit ihrem Rad unterwegs und sparte sich dadurch den Kampf um die wenigen Parklücken und die aufgeheizte Stimmung zwischen den gestressten Autobesitzern. Entspannt hatte sie einfach das Rad in den Fahrradständer geschoben und ihren Einkauf erledigt.

Beim Zurückstellen des Einkaufswagens fiel ihr Blick auf eine auf dem Boden liegende dunkelbraune Ledergeldbörse mit aufwändiger Prägung. Sarah hob sie auf und blickte sich um, ob jemand in der Nähe war, der offensichtlich etwas Wichtiges suchte. Alle beschäftigten sich mit anderen Dingen, zum Beispiel damit, mit grimmiger Miene die Einkäufe einzuräumen oder banale Unterhaltungen über das geplante Mittagessen zu führen. „Möchtest Du lieber Kartoffeln oder Nudeln zu dem Gulasch essen, Karl-Heinz?“, fragte eine Frau in Sarahs Hörweite ihren mürrisch dreinblickenden Mann.

Sarah öffnete die Börse und schaute nach Hinweisen zu dem Besitzer. Tatsächlich lag ein zusammengefaltetes Arztrezept mit einer Adresse darin. Ansonsten waren die üblichen Dinge wie Bargeld und Bankkarten, allerdings kein Personalausweis, zu finden. Die Geldbörse gehörte einem Mann der in einem weiter entfernten Bundesland lebte, so schied die Möglichkeit aus, das Fundstück einfach innerhalb der Stadt zurückzubringen.

Sarah fragte noch einmal bei der Kassiererin im Supermarkt, ob ein Kunde bei ihr nach seiner Geldbörse gefragt hatte, was sie verneinte.

Okay, also werde ich die gute alte Post bemühen“, dachte sie, während sie mit ihren Einkäufen nach Hause radelte.

Nach dem Verstauen der Einkäufe, kramte sie ganz hinten in ihrer Schreibtischschublade nach ihrem Briefpapier.

Guten Tag Herr Schneider,

beim Einkaufen fand ich Ihre Geldbörse, die ich Ihnen hiermit im versicherten Versand zurück sende. Zum Glück hatten Sie das Rezept von Ihrem Arzt noch nicht eingelöst.....

Entschuldigen Sie meine Neugier, aber es ist gerade in der „C“-Zeit außergewöhnlich, dass jemand, der nicht in der Nähe des Supermarktes wohnt, in dieser Stadt unterwegs ist. Wären Sie mein „Nachbar“, hätte ich einfach bei Ihnen geklingelt und Ihnen Ihr Eigentum übergeben.

Herzliche Grüße von Sarah Behrens“

Die Tage vergingen und Sarah dachte nicht mehr an diese kleine Begebenheit.

An einem Donnerstag nach der Arbeit öffnete Sarah ihren Briefkasten und darin lag neben einem Werbeblättchen ein Briefumschlag aus gefüttertem Leinenpapier. Ihre Adresse hatte der Absender mit echter blauer Tinte geschrieben und der markante Schwung bei dem „S“ ihres Vornamens fiel sofort ins Auge. Dieser Brief sah aus, als hätte er sich aus dem letzten Jahrhundert in das Jahr 2021 verirrt.

Sarah hatte einen vollen Arbeitstag hinter sich und freute sich auf den Feierabend. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung lief sie an Spike, dem Kater, vorbei. Er machte gerade ein Schläfchen auf Frau Schulzes Fußmatte, träumte und wackelte dabei ein wenig mit seinen Katerohren.

Endlich auf dem Sofa angekommen, öffnete Sarah den Brief vorsichtig. Solche Art Briefe waren nicht dazu geeignet, einfach aufgerissen zu werden.

Liebe Sarah,

darf ich Sie Sarah nennen? Falls es Sie stört, bitte ich um Verzeihung für meine persönliche Anrede. Für mich passt Frau Behrens nicht so gut, weil ich Ihnen so unendlich dankbar dafür bin, dass Sie mir mein verlorenes Portemonnaie zugeschickt haben. Sie können mir glauben, dass ich ehrlich verzweifelt war, als ich den Verlust bemerkte. Sie haben sogar den versicherten Versand extra bezahlt, nicht zu vergessen, Ihre Mühe, alles gut zu verpacken und zu beschriften.

Ja, was hatte ich in Corona-Zeiten in Ihrer Stadt zu suchen? Das ist eine berechtigte Frage, die ich Ihnen gerne beantworte. Meine Schwester wohnt mit ihrer Familie in Ihrer Nähe und ab und zu besuche ich sie. Da die Blumenläden immer noch geschlossen sind, musste meine Schwester mit einem Standard-Supermarkt-Blumenstrauß vorlieb nehmen. Beim Einkauf ist mir die Börse wohl aus der Jackentasche gefallen. Eigentlich verschenke ich viel lieber andere Sträuße, die mit Liebe und Ideen gestaltet sind, aber es sind besondere Zeiten.

Das Wochenende bei meiner Schwester war unter anderem wegen des Verlustes meiner Geldbörse nicht so entspannt wie geplant, da ich meine Bankkonten sperren musste usw. Eigentlich war der Ausflug als Tapetenwechsel im ständigen Lockdown-Einerlei gedacht. Ich musste einfach einmal etwas anderes sehen und erleben. Vielleicht verstehen Sie das. Es geht wohl nicht nur mir so.

Für Ihre Mühe und Ehrlichkeit möchte ich mich gerne erkenntlich zeigen. Womit kann ich Ihnen eine Freude bereiten? Mögen Sie schöne Blumensträuße? Das ist vielleicht nicht so eine gute Idee, falls es einen Partner an Ihrer Seite gibt. Ich möchte Sie natürlich weder in Verlegenheit oder noch in Erklärungsnot bringen. Also, lieber etwas anderes, zum Beispiel einen Gutschein? Ich freue mich, wenn Sie mir einen Tipp geben, auf welche Weise ich mich bei Ihnen bedanken darf.

Bleiben Sie so (ehrlich), wie Sie sind, und ich freue mich, von Ihnen zu hören.

Ihr Thomas Schneider aus dem schönen Hessen“

Sarah las die Zeilen noch einmal .Ihr gefiel die harmonische Handschrift und die Sorgfalt, mit der dieser Brief geschrieben war.

Herr Schneider hatte keine Telefonnummer angegeben. Sie konnte ihm nicht per SMS auf seinen altmodischen Brief antworten oder anrufen.


 
Mein Buch habe ich gerade fertig gelesen und im Fernsehen läuft sowieso nichts Interessantes, nur jede Menge Informationen zur Pandemie, die in größerer Dosierung schlechte Laune verbreiten“, dachte Sarah, „also, schreibe ich einen Brief an Herrn Schneider und eine Briefmarke gibt es in den Tiefen meines Schreibtisches auch noch irgendwo.“

Wieder holte Sarah das Briefpapier aus ihrer Schublade. Der Füller in dem alten Federmäppchen war eingetrocknet, aber es gab noch Tintenpatronen. Das Schreibgerät musste unter fließendem Wasser und mit einiger Mühe erst wieder im Leben erweckt werden.

Warum schreiben wir heutzutage so selten richtige Briefe?“ fragte sich Sarah, „es ist echte Entschleunigung und total schön.“

Mit der Teetasse neben sich, fing Sarah an zu schreiben.

Lieber Thomas,

Ihre Form der Anrede nehme ich gerne auf. Sie dürfen mich natürlich mit „Sarah“ ansprechen. Es ist lange her, dass ich so einen charmanten Brief bekommen habe.

Dass Sie Ihr Eigentum von mir zurück bekommen haben, finde ich selbstverständlich. Dafür müssen Sie mir nichts schenken. Diese üblichen Gutscheine des großen Onlineversenders sind aus meiner Sicht sehr unpersönlich. Nein, für mich muss dieser Online-Händler, der fast keine Steuern zahlt und während der Pandemie immer reicher wird, nicht noch extra verdienen. Was natürlich nicht bedeutet, dass ich nie etwas dort bestelle, ab und zu passiert es schon, aber nicht ständig. So politisch wollte ich an dieser Stelle gar nicht werden.

Mit einem Blumenstrauß würden Sie mich nicht Verlegenheit bringen, da ich momentan Single bin. Blumen kaufe ich mir manchmal selbst, um den Frühling in meiner Wohnung einziehen zu lassen. Diese Corona-Zeiten schlagen mir – wie den meisten – öfter auf die Stimmung, von daher kann ich den Wochenend-Ausflug zu Ihrer Schwester gut nachvollziehen. Ich war in den letzten Monaten immer in meiner vertrauten Umgebung und dabei ist mir manchmal die Decke auf den Kopf gefallen.

Den Ort, in dem Sie leben, kenne ich ganz gut. Eine gute Freundin von mir hat dort vor vielen Jahren studiert und ich war öfter bei ihrer damaligen WG zu Besuch. Abends haben wir die Stadt unsicher gemacht, waren unter anderem in der kultigen Jazz-Kneipe oder in den Programm-Kinos unterwegs. Mein Spruch zu diesen kleinen Kinos war immer:

Dort werden Filme gezeigt, die Preise gewinnen, die keiner kennt. :-)

Diese aus der Zeit gefallenen plüschigen Kinos sind aber typisch für Ihre Heimatstadt. Hoffentlich überleben sie die Pandemie.

Es hat mir Spaß gemacht, auf Ihre Zeilen zu antworten. Wenn Sie mögen, können wir uns gerne ab und zu richtige Briefe schreiben und Sie erzählen mir zum Beispiel, wie sich Ihr Heimatstädtchen entwickelt hat.

Sind Sie auch manchmal vor den Corona-Schließungen in der besagten Jazz-Kneipe gewesen und haben den in sich gekehrten Jazz-Musikern zugehört, die anscheinend mit ihren Instrumenten verwachsen sind? Gibt es noch die Trödel- und Second-Hand-Läden und die vielen Studenten-Kneipen? In Letzteren habe ich lustige Abende verlebt.

Bleiben Sie gesund und ich freue mich, wenn Sie mir auf diesen Brief wieder ganz altmodisch auf Papier, mit Umschlag und Briefmarke antworten. Das fühlt sich für mich an wie eine Insel im bewegten Ozean der „C“- Zeit. So ähnlich, als würde ich ein altes Schmuckkästchen öffnen und darin die alten goldenen Manschettenknöpfe meines Vaters wieder finden, die er zu besonderen Anlässen getragen hat.

Ihre Sarah“

Nachdenklich blickte Sarah vor sich hin, las den Brief noch einmal und legte ihn gefaltet in einen Umschlag. Sie würde ihn morgen auf dem Weg zur Arbeit in den Briefkasten werfen.

Chris Botti - Cinema Paradiso: Love Theme - 8/13/2006 - Newport Jazz Festival (Official)

Fortsetzung folgt

Freitag, 5. März 2021

#004.14 – Marie – kalter Frühling

 

#004.14 – Marie – kalter Frühling


Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute schreibe ich Euch aus der Perspektive von Marie, wie sich der
nahende Frühling im Lockdown anfühlt.
Sie wohnt im Dachgeschoss links.

Kalter Frühling


Die Sonne schien und der Himmel strahlte in einem frischen Blau. Vögel sangen fröhlich und die Eisreste auf den Autoscheiben schmolzen langsam dahin.

Spike startete gerade seine Morgenexpedition nach draußen. Frau Schulze in dicker Winterjacke, mit einer Mülltüte in der einen Hand, hielt ihm die Eingangstür auf und er verschwand wie ein Rentner-Kater-Blitz hinter in den Büschen. Es war Samstagmorgen und die meisten Bewohner des Hauses schliefen noch.

Marie blinzelte ein wenig und war noch in ihren Träumen gefangen. Sie hatte von dem großen Fluss geträumt. Dort hatten Christian und sie sich vor mehr als einem Jahr zu einem Spaziergang verabredet und das erste Mal geküsst.

Gestern Abend hatten sie sich richtig gestritten. Marie hatte sich spätabends wieder auf den Weg zu ihrer Wohnung gemacht. Dabei hatte sie im Auto während der Fahrt die eine oder andere Träne vergossen.

Lag es an diesem Lockdown? Oder war in ihrer Beziehung einfach Sand im Getriebe?

Marie ging zum Fenster, öffnete es und ließ die kalte und klare Morgenluft in ihr Schlafzimmer. Draußen schwirrten Vögel umeinander herum.

Kaffee ist jetzt genau das Richtige“, dachte sie und ging in die Küche.

Sie dachte an den Frühling vor zwei Jahren. Sie war Single gewesen und hatte sich mit Freundinnen und ihrem besten Kumpel nach Lust und Laune abends auf einen Feierabend-Wein treffen können. Außerdem gab es diesen Mann, mit dem sie ein bisschen geflirtet hatte. Im Nachhinein betrachtet schienen es Begebenheiten vor einer Zeitenwende gewesen zu sein. Damals hatte sie ihre Freundinnen bei den Treffen noch umarmt, und den Mann, für den sie sich interessierte und der ihr so nette Dinge erzählte, natürlich auch. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, und es überhaupt in Erwägung gezogen, dass diese Sorglosigkeit ein Jahr später nicht mehr möglich war. Und nach einem weiteren Jahr immer noch nicht.

Sie schaltete das Radio ein. Ein Mann erzählte dem Moderator am Telefon, dass er nächste Woche einen Friseurtermin bekommen habe und gerade aussähe wie ein „Monchichi auf Koks“. Marie lachte, als sie sich einen Affen aus Plüsch mit Haarschleife auf dem Kopf im Drogenrausch vorstellte. Ihre Frisur war auch ziemlich zusammengefallen, meistens trug sie einen Pferdeschwanz. „Ich werde nächste Woche einen Friseurtermin vereinbaren, das ist bestimmt stimmungsaufhellend.“


Was war gestern nur los gewesen? Sie hatte eine anstrengende Arbeitswoche gehabt und Christian war verärgert gewesen, dass ein wichtiger Auftrag storniert worden war. Dazu noch eine Prise Lockdown-Tristesse und schon gab ein Wort das andere.

Es war das erste Mal, dass sie so unversöhnlich auseinander gegangen waren. Christians Wohnungstür hatte sich laut hinter Marie geschlossen, als sie die Wohnung verließ.

Heute morgen vermisste sie ihn schon wieder und überlegte, was genau der Auslöser ihres Streits gewesen war.

Was macht diese Zeit nur mit uns?“, überlegte sie, während sie die Kaffeedose aus dem Schrank holte, „wie angespannt alles ist: Privat, im Job und in der Welt. Wir sind alle mehr oder weniger Lockdown-Zombies oder wahlweise Plüschaffen auf Koks, nicht nur auf dem Kopf sondern auch im Kopf.“

Es klingelte an ihrer Wohnungstür.

Marie“, die Stimme klang bedrückt durch die Sprechanlage, „ich fühle mich schrecklich und habe heute Nacht kein Auge zugemacht. Wie wäre es mit einem Frühstück? Ich habe Brötchen dabei.“

Marie zögerte eine Sekunde und drückte den Knopf, um Christian hineinzulassen.

Ich sehe furchtbar aus“, dachte sie und schaute an ihrem alten Minnie Mouse Schlafshirt herunter, „geschlafen habe ich auch wenig, vielleicht dreht er sich gleich auf dem Absatz wieder um.“

Marie“, er stand etwas atemlos vor ihrer Wohnungstür, „was war das gestern? Heute morgen dachte ich, ich drehe durch.“

Komm doch rein“, antwortete sie und verlagerte ihr Gewicht verlegen von einem Bein auf das andere, „keine Ahnung, was das war. Kein Licht am Ende des Lockdown-Tunnels und Dein stornierter Auftrag, plus meine seltsame, stressige Arbeitswoche vielleicht? Wie findest Du eigentlich meine Frisur?“

Christian konnte sich ein Lachen nicht verkneifen: „Wenn Du gerade aufgestanden bist, mag ich Dich am liebsten anschauen, egal, ob Deine Haare länger sind als sonst.“

Sehr charmant, aber das kannst Du doch nicht ernst meinen. Ich möchte so gerne wieder ausgehen, ein schönes Kleid anziehen, toll gestylt sein und ohne ein Stück Stoff im Gesicht Spaß haben. Alles erscheint gerade sehr trübe und hoffnungslos.“

Auch das geht vorbei“, sagte er leise.

Das hat Regine neulich gesagt. Sie sagte, es sei ein Spruch von ihrer Oma.“

Regines Oma hat Recht. Entschuldige, dass ich gestern so gereizt war. Ich möchte mich überhaupt nicht mit Dir streiten. Worüber eigentlich? Ich bekomme es nicht mehr zusammen.“

Ich auch nicht. Nachher rufe ich bei meiner Friseurin an. Das ist doch ein guter Plan.“

Frühstück? Oder verschieben wir das auf später?“, fragte er leise.

Später“, flüsterte Marie.

Chris Botti: No Ordinary Love

Fortsetzung folgt