#004.12 – Marie – innerer Kompass
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Heute schreibe ich Euch
aus der Perspektive von Marie, wie
sich der zweite zähe Lockdown
im Winter anfühlt.
Sie wohnt im Dachgeschoss links.
Innerer Kompass
Es war kalt im Treppenhaus. Ein eisiger Wind fegte durch die Ritzen der Eingangstür. Der Wind brachte winzige Schneeflocken mit, die vor der Tür einen dünnen weißen rutschigen Belag bildeten. Spike, der Hauskater des Mehrfamilienhauses, hatte es sich in seiner Box in der Ecke auf dem Absatz zum 1. Stockwerk bequem gemacht und machte ein Schläfchen. Selbst ihm war es draußen gerade zu kalt.
Marie kam an diesem Freitag Nachmittag von der Arbeit nach Hause und öffnete ihren Briefkasten. Darin fand sich nur ein Werbeblättchen eines Pizzadienstes. Ihre Nachbarin Sarah kam die Treppe herunter.
„Hallo Sarah, was für ein Wetter, oder? Ich freue mich schon auf meine warme Wohnung und mein Sofa.“
„Hey, Marie, ja stimmt. Ich muss leider noch einmal weg und habe lange überlegt, wie viele Schichten Kleidung angebracht sind.“
„Wollen wir uns morgen Nachmittag mal auf einen Kaffee bei mir treffen? Mir fällt langsam ein bisschen die Decke auf den Kopf. Was meinst Du, Sarah?“
„Das ist doch eine nette Idee, nachmittags um drei? Dann habe ich meinen geplanten Wochenendeinkauf bestimmt erledigt. Soll ich etwas zum Naschen mitbringen?“
„Ich wollte sowieso backen, um mich vom Bürostress dieser Woche zu erholen. Komme einfach vorbei. Ich freue mich,“
„Ich muss los, bis morgen, Marie.“
In ihrer Wohnung angekommen, seufzte Marie vor Erleichterung, als sie ihre Wohnungstür abschloss. Es war still, bis auf Windgeräusche.
„Jetzt einen Tee, nachher die Nachrichten und ansonsten nur das Sofa, meine kuschelige Decke und mein Buch“, waren ihre Gedanken.
In den Nachrichten wurde wie seit Monaten das alles beherrschende Thema Corona behandelt. Wie ein zäher Grauschleier zogen Infektionsgeschehen, Inzidenz- und R-Werte durch das Wohnzimmer. Marie schaltete den Fernseher aus und beschloss, gleich ins Bett zu gehen, die Decke über den Kopf zu ziehen und statt zu lesen, ein Hörbuch zu hören, bei dem sie garantiert einschlafen würde.
Am nächsten Tag um drei Uhr klingelte es an ihrer Wohnungstür. Der Duft von frisch gebackenen Kuchen hing in der Luft. Da Marie ihre Nachbarin schon öfter privat getroffen hatte, wusste sie, dass Sarah zuckerfrei lebte und hatte Bananen-Muffins mit Rosinen gebacken.
Sarah stand mit einem kleinen Primelblumentopf vor der Tür.
„Komm doch herein.“
„Gerne, hier im Flur ist auch verdammt kalt.“
Der Blumentopf wurde überreicht und Marie stellte ihn auf ihren kleinen Wohnzimmertisch.
„Vielen Dank für den Frühling im Topf, das baut mich auf.“
„Es ist echt schwer, seinen Optimismus angesichts der Nachrichtenlage und der Winterkälte zu behalten. Die Pandemie und der Lockdown ziehen sich wie ein altes durchgekautes Kaugummi in die Länge und nachher soll es noch richtig viel Schnee geben. Ich habe vorhin so viele Lebensmittel eingekauft, dass ich das Haus in den nächsten Tagen nicht mehr verlassen muss. Zum Glück arbeite ich nächste Woche zu Hause“, sagte Sarah.
„Mein Plan ist so ähnlich. Ich fahre nachher noch zu meinem Freund und er hat gerade am Telefon von seinem vollen Kühlschrank erzählt. Übrigens, Deinen Kettenanhänger finde ich total schön. Woher hast Du ihn? Er sieht aus wie ein besonderes Urlaubssouvenir oder Geschenk.“
Sarah trug einen kleinen silbernen Kompass an einem kürzeren schwarzen Lederband um den Hals. Sie nahm sich einen Muffin von dem Teller mit dem Goldrand, ein Erbstück von Maries Großmutter.
„Das sieht köstlich aus, danke. Die Kette habe ich mir selbst geschenkt. Sie soll mich daran erinnern, mich an mir selbst und meinen eigenen Werten zu orientieren anstatt mich von den Meinungen und Ansichten anderer überrennen zu lassen. Leider meinten es einige Menschen in der Vergangenheit nicht immer gut und wollten mich ab und zu manipulieren. Dann ist es für mich eine gute Strategie, erst einmal in meine innere Mitte zu schauen und das, was mir aufgetischt wird, zu überprüfen. Daran soll mich der Kompass immer wieder erinnern.“
„Das klingt interessant. Gab es denn aktuell bei Dir Vorkommnisse dieser Art? Ich bin zwar neugierig, aber erzähle es nur dann, wenn Du darüber reden möchtest.“ Marie sah ihre Nachbarin erwartungsvoll an.
„Ich habe mich in den letzten Wochen ein wenig mit dem Thema Online Dating beschäftigt. Das sagt, glaube ich, schon alles. Wobei ich nicht jeder Person, die dort auftaucht, böse Absichten unterstellen möchte. Es tummeln sich aber, sagen wir es einmal so, seltsame Zeitgenossen dort. Eine spannende Erfahrung.“
„Echt? Ich habe noch nie online geflirtet und hatte wahrscheinlich Glück, meinen Traummann einfach in meinem normalen Alltag kennenzulernen.“ Marie schaute, während sie das sagte, nachdenklich vor sich hin.
„Ich glaube nicht, dass Du einfach nur Glück hattest. Meine Erfahrung, die sich immer mehr bestätigt, ist, dass sich im Außen immer Dein innerer Zustand widerspiegelt. Konkret gesagt, wer sich selbst nicht liebt, wird weder online noch offline ein liebevolles Gegenüber treffen. Alle Begegnungen halten uns Spiegel unseres eigenen Innenlebens vor und können uns sehr herausfordern.“
Marie überlegte und sagte dann: „Du hast recht. Christian rief prompt bei mir an, als ich mit mir und meinem Leben im Reinen war und wir sind sehr glückiich. Mit Selbstliebe hat es viel zu tun, das stimmt. Wer sich selbst liebt, schließt toxische, manipulative Menschen aus dem Umfeld aus.“
„Ich war wohl in einigen Bereichen noch nicht so weit wie Du. Wahrscheinlich sind bei mir noch ein paar Dinge zu klären. Auf jeden Fall gab es interessante Begegnungen. Darüber könnte ich ein Buch schreiben“, Sarah grinste.
„Wie läuft es denn praktisch ab, wenn man auf so einem Portal online präsent ist?“
„Na ja, ich habe ein Profil erstellt und mich natürlich ein wenig umgesehen, wer dort unterwegs ist. Viele scheinen schon auf den ersten Blick ausschließlich auf eine kurze Affäre aus zu sein, was an sich nichts Verwerfliches ist, wenn sich die passenden Menschen treffen. Dann konnten dort Nachrichten versendet und Favoriten hinterlegt werden. Teilweise waren die Nachrichten so seltsam, dass ich oft gar nicht geantwortet habe, obwohl ich eigentlich ein höflicher Mensch bin. Aber wenn ich gleich beim ersten Kontakt nach meinen Vorlieben in Sachen Dessous gefragt werde, finde ich das sehr befremdlich.“
„Das kann ich verstehen. Darauf hätte ich auch nicht geantwortet.“
„Es gab auch einen Mann, mit dem ich vor dem Lockdown zum Essen verabredet war, der für ein auf den ersten Blick blitzsauberes Unternehmen arbeitet, das aber anscheinend in illegale Waffengeschäfte verwickelt war. Das hat im Nachhinein eine Freundin für mich durch intensive Internetrecherche herausgefunden. Das war eine echte Räubergeschichte, finde ich. Den Mann wollte ich nach dem ersten Treffen nicht mehr wiedersehen und habe die Sache höflich beendet. Er hat mich dann aber ein zweites Mal angeschrieben und zu einem feinen Essen eingeladen, weil er sich mein Synonym nicht gemerkt hat. Das war denn der lustige Teil“, erzählte Sarah.
Marie lachte los: „Das kann doch nicht wahr sein. Anscheinend war dieser Typ in Sachen Dating auch noch schlecht organisiert.“
„Ansonsten gab es einige absurde Chats, die ich dann auch beendet habe. Es gibt wirklich Männer, die gedanklich in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts leben. Einer von ihnen schrieb mir, er sei der Meinung, dass Frauen keine Entscheidungen treffen sollten, das sei Männern vorbehalten. Frauen sollten sich sinngemäß auf ihre naturgegebene Rolle konzentrieren“, Sarah musste auch lachen.
„Diese Auffassung ist in der Tat aus der Zeit gefallen. Ich wusste gar nicht, dass es solche Männer in unserer Generation noch gibt“, Marie war ziemlich überrascht.
„Mit einem Mann hatte ich dann wirklich mehr zu tun. Wir hatten eine schöne, intensive Zeit zusammen. Im Endeffekt hat es doch nicht gepasst, aber so ist das Leben. Es wird bestimmt noch der Richtige kommen“, sinnierte Sarah, „allerdings werde ich im echten analogen Leben danach Ausschau halten. Ich glaube, die vermeintliche Fülle an Möglichkeiten online verhindert eine wirklich echte, tiefe Bindung. Wie ein Schmetterling kann man von Blume zu Blume fliegen, ohne sich festzulegen oder ehrlich zu investieren. Letztendlich ist jedes „Date“ aber auch nur ein Mensch mit Stärken und Schwächen.“
„Der Kompass ist ein gutes Bild dafür, finde ich“, sagte Marie, „erst einmal braucht man einen Plan, in welche Richtung der eigene Weg gehen soll, und welche persönlichen Werte im Vordergrund stehen. Daran kann alles Weitere – auch in der Liebe – ausgerichtet werden. Soll ich noch Kaffee machen oder sollen wir darauf mit einem Sekt anstoßen?“
„Sekt ist eine sehr gute Idee“, antwortete Sarah.
Marie holte zwei Sektgläser aus dem Schrank und eine Sektflasche aus dem Kühlschrank in der Küche.
„Auf die Liebe und das Leben“, sagte Marie und hob das Glas.
„Auf die Liebe und das Leben“, wiederholte Sarah, „und alles, was noch kommen wird.“
Kygo - Happy Now ft. Sandro Cavazza (Official Video)
Fortsetzung folgt
Vielleicht hing die Kompaßnadel zu häufig und zeigte zu beständig Richtung 300° (Nordwest) und zu selten auf 150° (Südost). Auch eine Kompaßnadel braucht Bewegung, um nicht einzurosten.
AntwortenLöschenLiebes Spaßbrötchen, ein interessanter Gedanke für einen inneren Kompass, der tiefsten persönlichen Gesetzen folgt und dessen Ausrichtung nicht von außen beeinflussbar ist.
Löschen