#006.2
– Sarahs Tagebuch – 9/11 und andere Gedanken
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Heute schreibt Sarah
wieder in ihr Tagebuch.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.
1 Tag nach 9/11 -
viele Jahre später
Hallo Du geduldiges
Tagebuch,
gestern jährten sich
wieder die Ereignisse des 11. September und wie jedes Jahr dachte ich
daran, was ich gerade tat, als die Nachricht im Radio kam, dass
Flugzeuge in New York in Wolkenkratzer flogen. Was soll ich sagen?
Ich war damit beschäftigt, Wollmäuse in meiner damaligen Wohnung
mit dem Staubsauger zu jagen. Wenn ich mich richtig erinnere, habe
ich, nachdem die Durchsage kam, den Fernseher eingeschaltet, weil ich
zunächst der Meinung war, mich verhört zu haben.
Irgendwie hatte nach
meinem Empfinden unser westlicher konsumorientierter Lebensstil
danach seine Unschuld verloren. Auf einmal waren wir, die im
Überfluss und vermeintlich in Sicherheit lebten sowie immer höher,
schneller und weiter strebten, angreifbar und verletzlich geworden.
Dieses Bild habe ich noch deutlich im Kopf: Während ich mit meinem
Staubsauger einer langweiligen, alltäglichen Tätigkeit nachging,
wurde ein neues Zeitalter eingeläutet.
Heutzutage gibt es andere
und zusätzliche Herausforderungen. Die Welt scheint sich immer
schneller zu drehen und wird digital immer effizienter. Das zeigt
sich besonders in der Arbeitswelt, finde ich. Bei meinem Bürojob
gibt es eine enorme Verdichtung der Aufgaben und Abläufe. Ich habe
ein Bild eines Jongleurs im Kopf, der sehr viele Bälle in der Luft
hat. Das System ist sehr instabil und erfordert volle Konzentration.
Fällt ein Ball herunter, ist die Mühe sehr groß, alles wieder in
Bewegung zu bringen, um in dem Bild des Jongleurs zu bleiben.
Deshalb mag ich am
Wochenende als Ausgleich entschleunigte bodenständige und analoge
Aktivitäten. Morgen werde ich beispielsweise einen Kuchen backen.
Nachmittags gibt es dann einen Kaffeeklatsch bei einer guten
Freundin, die sehr gerne in ihren Blumenbeeten buddelt. Das ist im
wahrsten Sinne des Wortes noch bodenständiger als Kuchen backen. Sie
hat, nebenbei bemerkt, ebenfalls einen fordernden Bürojob. Diesen
Kühlschrank-Magneten habe ich heute in der Stadt entdeckt und werde
ihn ihr, zusammen mit dem Kuchen, mitbringen:
Gerade in anstrengenden
beruflichen Phasen muss ich mich immer wieder ermahnen, nach
Feierabend und am Wochenende einen Gang zurück zu schalten. Vor
kurzem hatte ich bei meiner Gitarre neue Saiten aufgezogen und ab und
zu ein paar einfache Songs gespielt. Ja, natürlich ist es wieder
eingeschlafen, als der Stresslevel im Job angestiegen ist. Absurd
ist, dass ich manchmal zu müde dafür bin, Dinge zu tun, die mich
innerlich stärken. Wie kommt man da wieder heraus? Gibt es ein
Rezept dagegen außer Selbstdisziplin? Wenigstens schreibe ich seit
einiger Zeit wieder Tagebuch.
Was bei mir mittlerweile
wirklich gut funktioniert, ist der bewusste Fokus auf die guten Dinge
des Alltags. Neben den Kolleginnen und Kollegen mit nervigen
Verhaltensweisen gibt es auch die anderen, die mein Herz erfreuen und
die mich aufbauen.
Außerdem zähle ich
innerlich oft die schönen Aspekte auf, die mein Leben ausmachen.
Ganz weit oben auf meiner Liste, steht meine wunderschöne kleine
Wohnung, mein Rückzugsort und meine Entspannungsoase mit Kater
Spike.
Mein Nachbar sagte
neulich, er sei so froh darüber, dass ich hier eingezogen bin. Ich
bin es auch, lieber Nachbar, jeden Tag kann ich mich dafür
begeistern, hier zu wohnen.
Außerdem freue ich mich
darüber, dass außer meinem Beruf und der Organisation meines
Alltags viele Geschichten, Musik und ein reiches Innenleben mit
vielfältigsten Wahrnehmungen in mir sind. Das ist ein echter Schatz.
Die kleine Hannah, die
mit ihrer Familie hier lebt, scheint vom gleichen Schlag zu sein wie
ich. Wir verstehen uns trotz des Altersunterschieds ohne Erklärungen.
Mir passiert es selten, dass ich auf solche Mitmenschen treffe, die
so ähnlich gestrickt sind wie ich. Wenn es passiert, freue ich mich
immer sehr darüber.
Neulich, als wir uns im
Treppenhaus trafen, führten Hannah und ich folgende Konversation:
„Hallo Hannah, Herr
Meyer wird sich wohl jetzt eine Pizza bestellen, oder?“
Es roch nach leicht
angebranntem Essen und einer komischen Kombination von
zusammengerührten Lebensmitteln aus der Wohnung von Herrn Meyer,
nicht penetrant sondern nur für die spezielle Nasen von Hannah und
mir wahrnehmbar. Für uns war es offensichtlich, dass Herr Meyer mit
seinen Kochkünsten gescheitert war.
„Ja, Sarah, das glaube
ich auch. Es riecht wirklich übel, der arme Herr Meyer. Na ja, zum
Glück gibt es ja genügend Pizza-Lieferanten.“
Außerdem weiß Hannah
immer, wie es einer anderen Person geht. Trotzdem sie sehr schüchtern
ist, hat sie mich neulich angesprochen, als ich von der Arbeit kam.
„Hallo Sarah“, sagte sie, „gab es schlechte Nachrichten bei
Deiner Arbeit?“ Sie hatte damit genau den Nagel auf den Kopf
getroffen. In der Tat war es der Tag der „bad news“ bei der
Arbeit gewesen.
Das waren wieder viele
Gedanken. Durch das Schreiben kann ich mich innerlich gut sortieren
und am Montag wieder alle bunten Bälle in meinem Job aufnehmen und
versuchen die Balance und den Überblick zu behalten.
PS
Heute kaufte ich wieder
in dem Supermarkt ein, in dem ich nicht auf die Flirt-Versuche des
netten Mannes reagiert habe, weil ich in dem entscheidenden Moment zu
schüchtern war. Er war dieses Mal nicht dort …. und mein traumhaft
schönes neues Kleid hängt immer noch ungetragen außen an meinem
Kleiderschrank ….
Sonntag, einen Tag später
Es duftet köstlich nach
Apfelkuchen in meiner Wohnung. Falls Hannah im Treppenhaus unterwegs
ist, wird sie es riechen.
Beim Backen lief bei mir
die folgende Playlist:
George Benson: Songs and stories
Das passt sehr gut zu
einem entspannten Sonntag mit den Fingern im Kuchenteig.
Fortsetzung folgt