Sonntag, 12. April 2020

#004.4 - Marie und ein stiller Ostermorgen

#004.4 - Marie und ein stiller Ostermorgen

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)



Heute schreibe ich Euch ein paar Gedanken von Marie zum Osterfest auf.
Sie wohnt im Dachgeschoss oben links. 

Stille Ostern in besonderen Zeiten


Dieses Jahr an Ostern stand gefühlt die Welt still. Am Abend zuvor gab es keine Osterfeuer, keine Staus auf den Autobahnen, weil die Leute einfach zu Hause waren, keine Hektik und alles Unwesentliche war auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Das Besondere daran war, dass es fast die ganze Welt betraf, zumindest der Umstand, dass alles anders war. Es gab nach wie vor Länder, die von diktatorischen Führungen regiert wurden, die das bis jetzt wenig erforschte Virus leugneten, die daraus resultierende Erkrankung mit einer Art Grippe gleichsetzten und laut „weiter so wie immer“ schrien. Das alte, eingefahrene Denken war durchaus noch stark präsent und kämpfte mit aller Macht um das Überleben, aber neue Ideen, das Leben zu gestalten, nahmen konkretere Formen an und traten verstärkt in das Bewusstsein der Menschen. Das Wesentliche war sichtbar geworden.
Man könnte sagen, die meisten Menschen lebten momentan wie der alte Kater Spike: Sie waren in ihrem vertrauten Lebensraum unterwegs, aßen, schliefen, genossen die kleinen netten Gesten zwischendurch und ein entspanntes Verweilen auf einer sonnigen Bank und hörten dabei den zwitschernden Vögeln zu.
Marie wachte sehr früh auf und Christian schlief noch. Sie stand leise auf, um ihn nicht zu wecken. Leise ging sie in die Küche und nahm das Espresso-Kännchen, das sie einmal auf einem Flohmarkt gekauft hatte, von der Fensterbank. Immer, wenn sie es benutzte, kochte sie sich einen „entschleunigten“ Kaffee für die italienischen Momente im Leben, wie sie es selbst nannte. Es brauchte mehr Aufmerksamkeit und Zeit, bis das dampfende Getränk in der Tasse war. Sie stellte den kleinen Milchtopf mit Milch neben das Espresso-Kännchen auf die Herdplatte und schaute dann aus dem Fenster. Draußen sangen die Vögel und es war so unglaublich friedlich.

Marie hatte ein Geheimnis, was sie bis jetzt mit sehr wenigen Menschen geteilt hatte. Sie rechnete: Vor 18 Jahren, als sie noch woanders gelebt hatte, gab es ein Osterfest mit Ereignissen, die so einschneidend waren, dass sie danach beschlossen hatte, jedes Jahr Ostern wie einen zweiten Geburtstag zu begehen, zumindest für sich selbst. Vielleicht einer höheren Macht, Zufall oder anderen nicht greifbaren Umständen verdankte sie es, noch auf dieser Welt zu sein. „Das heißt, heute werde ich 18 Jahre alt und ich bin jetzt volljährig“, dachte Marie. Ihr nächster Gedanke war, ein süßes, prickelndes Mädchengetränk, Erdbeer Prosecco oder Hugo, mit Freundinnen zu trinken und dann Pläne für das Erwachsenenleben zu schmieden, inklusive großer Liebe, Traumberufen, Reisen und tollen Orten, wo man leben konnte, wenn man endlich seinen Schulabschluss in der Tasche hatte. Marie lächelte ein wenig bei diesen Gedanken.
Auf dem Herd war jetzt Bewegung in die italienische Art der Kaffeezubereitung gekommen, erst ein leichtes Rauschen, anschließendes Blubbern und dann köstlicher Kaffeegeruch in der Küche verriet, dass dieses Wunderwerk aus Metall sein Ergebnis vollbracht hatte. Die Milch war ebenfalls erwärmt. Marie holte ihre riesige Tasse mit dem Tupfenmuster aus dem Schrank. „Mein Geschirr passt auf jeden Fall zu einer 18-Jährigen“, dachte sie. Mit dem kleinen Mixer schäumte sie die Milch auf und fertig war der perfekte Ostermorgen-Kaffee. 

Was wünsche ich mir denn für mein neues Lebensjahr?“ fragte sich Marie, während sie die aufgeschäumte Milch mit dem Kaffee vorsichtig verrührte, „ein anderes Miteinander wäre schön, weniger Einsatz von Ellenbogen und mehr Zusammenarbeit. Mehr Respekt vor der Natur, weniger Konsum und viel Liebe natürlich. Das liegt ja alles gerade in der Luft.“
Im Zusammenhang mit dem Thema Liebe dachte sie, dass Christian erst in ihr Leben getreten war, als sie mit ihrem Beruf, ihren Hobbys und ihrem Freundeskreis komplett zufrieden und erfüllt war. Christian war im übertragenen Sinne das Tüpfelchen auf dem „I“ oder die Kirsche auf ihrer eigenen „Lebens“-Sahnetorte, was eine völlig neue Dimension von Glück eröffnete. Jeder durfte so sein, wie er oder sie war, ohne Ansprüche oder gegenseitige Erwartungshaltungen.
Diese Erkenntnis hat man mit 18 Jahren wahrscheinlich noch nicht“, dachte Marie, „von daher ist es ganz gut, dass ich real schon etwas älter bin. Ich weiß natürlich auch, dass eine Reise nach Australien oder ein Leben in der Toskana nicht eine Garantie für Glück sind. Glück ist ortsunabhängig. Noch eine wichtige Erkenntnis, die feiernde 18-Jährige mit Erdbeer Prosecco in den Händen wahrscheinlich nicht haben.“ Marie überlegte, ob es an dem Osterfest oder an der besonderen Weltstimmung lag, dass ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, wahrscheinlich an beidem. Es fühlte sich gut an, dass sie die Leichtigkeit der 18-Jährigen, kombiniert mit den Erkenntnissen ihres echten Alters, tief und lebendig in sich selbst spüren konnte.
Guten Morgen und frohe Ostern“, Christian stand im Türrahmen ihrer Küche und sah sie etwas verschlafen und sehr liebevoll an. „Frohe Ostern! Habe ich Dir schon gesagt, dass ich glücklich bin, dass es dich gibt?“ antwortete Marie und freute sich auf alles, was noch kommen würde.
Fortsetzung folgt





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