#003.1 - Hannah ist anders
(Die Welt eines hochsensiblen Kindes)
(Die Welt eines hochsensiblen Kindes)
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
meiner Geschichten. :-)
Heute erlebt Ihr einen
Tag im Leben von Hannah. Hannah ist 11 Jahre alt und wohnt im
Erdgeschoss.
Hannah ist anders
Guten Morgen! Ich heiße
Hannah und ich bin anders. Das sagen zumindest die anderen. Die
anderen sind zum Beispiel meine Eltern, mein älterer Bruder Leon,
meine Klassenkameraden und natürlich die Lehrer an meiner Schule.
Nein, an dieser Stelle korrigiere ich mich, meine Klassenlehrerin
Frau Müller sagt es nicht. Sie ermutigt mich, so zu sein, wie ich
bin. Aber ich greife vor, denn Ihr seid ja eingeladen, mich heute
durch meinen Tag zu begleiten. Dann könnt Ihr Euch vielleicht ein
eigenes Bild machen.
Ich wohne mit meiner
Familie im Erdgeschoss in einer gemütlichen, aber relativ kleinen
Wohnung. Mein Bruder und ich haben jeweils ein eigenes Zimmer. Als
ich ungefähr fünf Jahre alt war, gab es das Experiment eines
gemeinsamen Kinderzimmers mit meinem Bruder, weil mein Vater eines
der Zimmer in der Wohnung als Büro nutzen wollte. Das Experiment
dauerte zum Glück nur drei Monate. Ich kann mich zwar nicht mehr
genau erinnern, aber es muss furchtbar für alle Beteiligten gewesen
sein.
Ich bin gerne für mich
alleine, lese sehr viel, träume vor mich hin und schaue in Bäume
und denke mir Geschichten aus. Die Tür meines Kinderzimmers ist oft
zu und es stört mich sehr, wenn Leon mit seinen Freunden nachmittags
durch die Wohnung tobt. Lärm kann ich gar nicht ertragen, Lärm
kreischt in meinem Kopf. Wenn es zu laut wird, gehe ich meistens nach
draußen und suche Spike, unseren Hauskater. Spike ist mein bester
Freund und er versteht alles, was ich ihm erzähle. Und ich verstehe,
was er mir mitteilen will. Zumindest bin ich davon überzeugt, dass
es so ist. Er kennt meine Geheimnisse und Geschichten und ich seine.
Aber genug der Vorrede.
Mein Tag beginnt meistens um 6.30 Uhr. Meine Mutter weckt mich und
ermahnt mich, nicht zu trödeln, damit ich den Schulbus erwische.
Meistens habe ich keine Lust, zur Schule zu gehen. Das meiste, was
wir dort lernen, interessiert mich nicht besonders und meine
Klassenkameraden finden mich mehrheitlich komisch, so dass ich oft
einfach übersehen und ignoriert werde.
Ich habe zwei gute
Freundinnen Marie und Anna und das genügt mir. Manchmal fühlt es
sich nicht gut, so anders zu sein, wenn es zum Beispiel um
Gruppenarbeiten geht, weil mich außer Marie und Anna niemand wegen
meines uncoolen Verhaltens in seiner Gruppe haben möchte. Auch das
Auswählen der Mannschaften im Sportunterricht ist für mich sehr
deprimierend. Ich bin immer die Vorletzte, die ausgewählt wird. Die
Letzte ist Marion. Marion ist übergewichtig und im Sport ziemlich
unbegabt. Aber ich greife schon wieder vor. ….
„Hannah, vergiss nicht,
dein Mathebuch einzupacken. Herr Schmidt sagte beim letzten
Elternsprechtag, dass du es oft nicht dabei hast“, erinnert mich
meine Mutter. Sie reicht mir meine Brotdose mit dem langweiligen
Käsebrot und dem obligatorischen Apfel darin. „Und denke daran,
dich mehr im Unterricht zu beteiligen, ansonsten bekommst wieder
schlechte Noten im Zeugnis und du musst unbedingt das Abitur
schaffen. Ohne Abitur gibt es wenig berufliche Perspektiven. Es kann
doch nicht so schwer sein, öfter mal die Zähne auseinander zu
bekommen“, fuhr meine Mutter fort. Es ist immer die gleiche Leier.
Anscheinend wünschen sich meine Eltern ein anderes Kind, auf keinen
Fall mich, die so kompliziert, wie ich bin. Aber ich bin ein bisschen
wie eine Schildkröte und ziehe mich bei diesen Monologen von meiner
Umwelt in meinen sicheren inneren Panzer zurück.
„Tschüss Mama“,
verabschiede ich mich und greife nach meinem Rucksack.
Der Bus ist – wie jeden
Morgen – total überfüllt. Ich kann es kaum ertragen. Die Gerüche,
die Stimmungen, die Lautstärke und die Enge. Wenn ich in der Schule
ankomme, fühle ich mich total erschöpft. Außerdem werde ich gerne
von einer Gruppe älterer Jungs als williges Opfer ausgewählt. Sie
haben schon den Katzenanhänger von meinem Rucksack abgerissen, in
den Dreck geworfen und mich ausgelacht, weil ich deswegen geweint
habe. Das ist mein Glücksbringer, weil die Katze darauf wie Spike
aussieht und ich hatte dadurch das Gefühl, Spike ist als Beschützer
immer bei mir. Das war ein sehr trauriger Tag, als sie mir das
angetan haben. „Heulsuse, Heulsuse!“, schrien sie mir zu. Ihr
Anführer Jan begrüßt mich fast jeden Morgen mit: „Na, Heulsuse.“
Das kann ich mittlerweile fast ignorieren, ein bisschen wie die
Monologe meiner Mutter, bei denen ich auch meistens auf Durchzug
schalte.
Wenn die Busfahrt
überstanden ist, geht der Schultag mit allen seinen kleinen und
großen Gemeinheiten los. Allein der Geruch in dieser Schule ist
unglaublich unangenehm. Es riecht nach Staub, billigem Putzmittel,
Schweiß, den Parfum- und Deoexperimenten meiner Mitschüler und eben
nach Schule im allgemeinen. Ich habe Anna mal versucht zu schildern,
wie ich diesen Geruch wahrnehme. Sie meinte, ich spinne ein bisschen.
Sie könne nur riechen, wenn die dicke Marion wieder ihr Deo
vergessen habe. Seitdem habe ich meine Beobachtungen und
Wahrnehmungen lieber für mich behalten.
Während der meisten
Unterrichtstunden schaue ich aus dem Fenster und fühle mich
eingesperrt. Die Pausen sind nur gut, wenn ich sie mit Anna und Marie
in einer Schulhofecke verbringe. Wir essen dann unser zweites
Frühstück und lästern ein bisschen über die Lehrer und einige
Mitschüler. Bei den beiden fühle ich mich wohl. Sind noch weitere
Mitschüler in der Nähe, bin ich gestresst, weil es dann meistens
laut und unangenehm wird. Irgendjemand versucht dann meistens, die
anderen zu übertrumpfen mit Markenklamotten oder damit, welches
coole Handy als nächstes gekauft wird. Ich finde solche Gespräche
ziemlich ermüdend und sinnlos, weil mich Markenkleidung und Handys
nicht interessieren. Auch bei den angesagten Serien auf Netflix oder
Computerspielen kann ich nicht mitreden, weil ich es total
anstrengend finde, lange auf Bildschirme zu starren. Blutige Krimis
und Ballerspiele, die Leon auch gerne spielt, wühlen mich so sehr
auf, dass ich nachts nicht schlafen kann. Das würde ich natürlich
niemals in einer größeren Gruppe zugeben, nur Marie und Anna wissen
davon. Und so bin ich in größeren Gruppen immer die langweilige
Schüchterne, die nie irgendetwas Interessantes erzählt.
Die Stunden mit unserer
Klassenlehrerin Frau Müller gefallen mir. Sie unterrichtet Deutsch
und Geschichte. Ich mochte sogar im letzten Halbjahr die Gedichte,
die wir interpretieren mussten. Meine Klassenkameraden fanden das
Thema so öde, ich hingegen konnte mich darin so richtig verlieren.
Ich finde sogar, dass manche Gedichte wie Musik klingen, die ich
wahrhaftig in mir hören kann. Das habe ich natürlich niemandem
außer Spike erzählt. Spike hat daraufhin gesagt, dass für ihn der
Wind wie ein Gedicht klinge. Je nachdem, ob er um die Garagen oder
durch die Bäume wehe, werde ein ganz eigener Klang erzeugt. Spike
und ich haben dann lange dem Wind zugehört und den Klang tief in
unserem Herzen empfunden. Daraus werde ich demnächst ein Gedicht
schreiben, was ich nur Spike vorlesen werde.
Frau Müller behandelt
mich wie eine normale Schülerin und interessiert sich wirklich für
meine Sichtweise auf die Welt. Das rechne ich ihr hoch an. Sie sagte
neulich, „Hannah, erzähle uns doch mal, was du über diesen Text
denkst. Du hast immer so besondere und schöne Gedanken.“ Meine
Klassenkameraden haben nur hämisch gekichert, aber das war mir in
dem Moment egal und habe meine Gedanken unzensiert preisgegeben, was
in der Klasse noch hämischer kommentiert wurde. Frau Müller hat
mich gelobt und gesagt, dass mein Beitrag sehr wertvoll sei.
Bis auf diese kleinen
Inseln mit meinen beiden Freundinnen und Frau Müller ist der
Schultag ein einziger Kampf für mich. Wenn ich zu Hause bin, denke
ich oft, dass ich wieder einen Tag geschafft habe und mich endlich in
meinem Zimmer ausruhen kann. Wenn ich nichts mehr zu lesen habe, gehe
ich in die Bücherei und hole mir neue Bücher. Meine Familie findet
meinen Lesehunger seltsam und unproduktiv, aber das ist mir
inzwischen egal. Ich habe damit aufgehört, meiner Familie meine
innere Welt näher zu bringen. Es nur anstrengend und bringt nichts
außer Ermahnungen, mich um die wirklich wichtigen Dinge wie
Hausaufgaben und Lernen zu kümmern, damit ich auf jeden Fall das
Abitur schaffe.
Heute habe ich zum Glück
wenig Hausaufgaben zu erledigen. Das heißt, später kann ich mit
Spike auf der Kellertreppe sitzen, ihn kraulen und ihm von meinem Tag
berichten. Das sind für mich immer die schönsten Momente des Tages.
Oder ich gehe noch in den nahe gelegenen Wald, was mir meine Mutter
nur erlaubt, wenn es hell ist. Dort denke ich mir Geschichten aus,
spreche manchmal mit den Bäumen und Käfern (aber behaltet das bitte
für euch) und höre dem Wind zu.
Die Abende, die meine
Familie verbringt, finde ich meistens langweilig. Mein Vater schaut
gerne Fernsehen und redet so gut wie gar nicht mit uns. Nicht reden
ist für mich in Ordnung, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass er
gar nichts mit uns zu tun haben möchte. Mit Spike kann ich einfach
zusammen schweigen und fühle mich stark mit ihm verbunden, bei
meinem Vater ist das nicht so. Meistens bleibe ich nach dem
Abendessen aus Höflichkeit noch eine halbe Stunde im Wohnzimmer und
gucke irgendeine Sendung, die mich überhaupt nicht interessiert,
mit. Dann gehe ich meistens in mein Zimmer. Meine Mutter hat mich
wirklich schon einmal gefragt, warum ich so komisch sei, so anders.
Die Frage konnte ich nicht beantworten, denn ich bin einfach anders.
Fortsetzung folgt
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