Sonntag, 10. März 2019

#003.1 - Hannah ist anders

#003.1 - Hannah ist anders

(Die Welt eines hochsensiblen Kindes)

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)



Heute erlebt Ihr einen Tag im Leben von Hannah. Hannah ist 11 Jahre alt und wohnt im Erdgeschoss. 


Hannah ist anders



Guten Morgen! Ich heiße Hannah und ich bin anders. Das sagen zumindest die anderen. Die anderen sind zum Beispiel meine Eltern, mein älterer Bruder Leon, meine Klassenkameraden und natürlich die Lehrer an meiner Schule. Nein, an dieser Stelle korrigiere ich mich, meine Klassenlehrerin Frau Müller sagt es nicht. Sie ermutigt mich, so zu sein, wie ich bin. Aber ich greife vor, denn Ihr seid ja eingeladen, mich heute durch meinen Tag zu begleiten. Dann könnt Ihr Euch vielleicht ein eigenes Bild machen.
Ich wohne mit meiner Familie im Erdgeschoss in einer gemütlichen, aber relativ kleinen Wohnung. Mein Bruder und ich haben jeweils ein eigenes Zimmer. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, gab es das Experiment eines gemeinsamen Kinderzimmers mit meinem Bruder, weil mein Vater eines der Zimmer in der Wohnung als Büro nutzen wollte. Das Experiment dauerte zum Glück nur drei Monate. Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, aber es muss furchtbar für alle Beteiligten gewesen sein.
Ich bin gerne für mich alleine, lese sehr viel, träume vor mich hin und schaue in Bäume und denke mir Geschichten aus. Die Tür meines Kinderzimmers ist oft zu und es stört mich sehr, wenn Leon mit seinen Freunden nachmittags durch die Wohnung tobt. Lärm kann ich gar nicht ertragen, Lärm kreischt in meinem Kopf. Wenn es zu laut wird, gehe ich meistens nach draußen und suche Spike, unseren Hauskater. Spike ist mein bester Freund und er versteht alles, was ich ihm erzähle. Und ich verstehe, was er mir mitteilen will. Zumindest bin ich davon überzeugt, dass es so ist. Er kennt meine Geheimnisse und Geschichten und ich seine.
Aber genug der Vorrede. Mein Tag beginnt meistens um 6.30 Uhr. Meine Mutter weckt mich und ermahnt mich, nicht zu trödeln, damit ich den Schulbus erwische. Meistens habe ich keine Lust, zur Schule zu gehen. Das meiste, was wir dort lernen, interessiert mich nicht besonders und meine Klassenkameraden finden mich mehrheitlich komisch, so dass ich oft einfach übersehen und ignoriert werde.
Ich habe zwei gute Freundinnen Marie und Anna und das genügt mir. Manchmal fühlt es sich nicht gut, so anders zu sein, wenn es zum Beispiel um Gruppenarbeiten geht, weil mich außer Marie und Anna niemand wegen meines uncoolen Verhaltens in seiner Gruppe haben möchte. Auch das Auswählen der Mannschaften im Sportunterricht ist für mich sehr deprimierend. Ich bin immer die Vorletzte, die ausgewählt wird. Die Letzte ist Marion. Marion ist übergewichtig und im Sport ziemlich unbegabt. Aber ich greife schon wieder vor. ….
Hannah, vergiss nicht, dein Mathebuch einzupacken. Herr Schmidt sagte beim letzten Elternsprechtag, dass du es oft nicht dabei hast“, erinnert mich meine Mutter. Sie reicht mir meine Brotdose mit dem langweiligen Käsebrot und dem obligatorischen Apfel darin. „Und denke daran, dich mehr im Unterricht zu beteiligen, ansonsten bekommst wieder schlechte Noten im Zeugnis und du musst unbedingt das Abitur schaffen. Ohne Abitur gibt es wenig berufliche Perspektiven. Es kann doch nicht so schwer sein, öfter mal die Zähne auseinander zu bekommen“, fuhr meine Mutter fort. Es ist immer die gleiche Leier. Anscheinend wünschen sich meine Eltern ein anderes Kind, auf keinen Fall mich, die so kompliziert, wie ich bin. Aber ich bin ein bisschen wie eine Schildkröte und ziehe mich bei diesen Monologen von meiner Umwelt in meinen sicheren inneren Panzer zurück.
Tschüss Mama“, verabschiede ich mich und greife nach meinem Rucksack.
Der Bus ist – wie jeden Morgen – total überfüllt. Ich kann es kaum ertragen. Die Gerüche, die Stimmungen, die Lautstärke und die Enge. Wenn ich in der Schule ankomme, fühle ich mich total erschöpft. Außerdem werde ich gerne von einer Gruppe älterer Jungs als williges Opfer ausgewählt. Sie haben schon den Katzenanhänger von meinem Rucksack abgerissen, in den Dreck geworfen und mich ausgelacht, weil ich deswegen geweint habe. Das ist mein Glücksbringer, weil die Katze darauf wie Spike aussieht und ich hatte dadurch das Gefühl, Spike ist als Beschützer immer bei mir. Das war ein sehr trauriger Tag, als sie mir das angetan haben. „Heulsuse, Heulsuse!“, schrien sie mir zu. Ihr Anführer Jan begrüßt mich fast jeden Morgen mit: „Na, Heulsuse.“ Das kann ich mittlerweile fast ignorieren, ein bisschen wie die Monologe meiner Mutter, bei denen ich auch meistens auf Durchzug schalte.
Wenn die Busfahrt überstanden ist, geht der Schultag mit allen seinen kleinen und großen Gemeinheiten los. Allein der Geruch in dieser Schule ist unglaublich unangenehm. Es riecht nach Staub, billigem Putzmittel, Schweiß, den Parfum- und Deoexperimenten meiner Mitschüler und eben nach Schule im allgemeinen. Ich habe Anna mal versucht zu schildern, wie ich diesen Geruch wahrnehme. Sie meinte, ich spinne ein bisschen. Sie könne nur riechen, wenn die dicke Marion wieder ihr Deo vergessen habe. Seitdem habe ich meine Beobachtungen und Wahrnehmungen lieber für mich behalten.
Während der meisten Unterrichtstunden schaue ich aus dem Fenster und fühle mich eingesperrt. Die Pausen sind nur gut, wenn ich sie mit Anna und Marie in einer Schulhofecke verbringe. Wir essen dann unser zweites Frühstück und lästern ein bisschen über die Lehrer und einige Mitschüler. Bei den beiden fühle ich mich wohl. Sind noch weitere Mitschüler in der Nähe, bin ich gestresst, weil es dann meistens laut und unangenehm wird. Irgendjemand versucht dann meistens, die anderen zu übertrumpfen mit Markenklamotten oder damit, welches coole Handy als nächstes gekauft wird. Ich finde solche Gespräche ziemlich ermüdend und sinnlos, weil mich Markenkleidung und Handys nicht interessieren. Auch bei den angesagten Serien auf Netflix oder Computerspielen kann ich nicht mitreden, weil ich es total anstrengend finde, lange auf Bildschirme zu starren. Blutige Krimis und Ballerspiele, die Leon auch gerne spielt, wühlen mich so sehr auf, dass ich nachts nicht schlafen kann. Das würde ich natürlich niemals in einer größeren Gruppe zugeben, nur Marie und Anna wissen davon. Und so bin ich in größeren Gruppen immer die langweilige Schüchterne, die nie irgendetwas Interessantes erzählt.
Die Stunden mit unserer Klassenlehrerin Frau Müller gefallen mir. Sie unterrichtet Deutsch und Geschichte. Ich mochte sogar im letzten Halbjahr die Gedichte, die wir interpretieren mussten. Meine Klassenkameraden fanden das Thema so öde, ich hingegen konnte mich darin so richtig verlieren. Ich finde sogar, dass manche Gedichte wie Musik klingen, die ich wahrhaftig in mir hören kann. Das habe ich natürlich niemandem außer Spike erzählt. Spike hat daraufhin gesagt, dass für ihn der Wind wie ein Gedicht klinge. Je nachdem, ob er um die Garagen oder durch die Bäume wehe, werde ein ganz eigener Klang erzeugt. Spike und ich haben dann lange dem Wind zugehört und den Klang tief in unserem Herzen empfunden. Daraus werde ich demnächst ein Gedicht schreiben, was ich nur Spike vorlesen werde.
Frau Müller behandelt mich wie eine normale Schülerin und interessiert sich wirklich für meine Sichtweise auf die Welt. Das rechne ich ihr hoch an. Sie sagte neulich, „Hannah, erzähle uns doch mal, was du über diesen Text denkst. Du hast immer so besondere und schöne Gedanken.“ Meine Klassenkameraden haben nur hämisch gekichert, aber das war mir in dem Moment egal und habe meine Gedanken unzensiert preisgegeben, was in der Klasse noch hämischer kommentiert wurde. Frau Müller hat mich gelobt und gesagt, dass mein Beitrag sehr wertvoll sei.
Bis auf diese kleinen Inseln mit meinen beiden Freundinnen und Frau Müller ist der Schultag ein einziger Kampf für mich. Wenn ich zu Hause bin, denke ich oft, dass ich wieder einen Tag geschafft habe und mich endlich in meinem Zimmer ausruhen kann. Wenn ich nichts mehr zu lesen habe, gehe ich in die Bücherei und hole mir neue Bücher. Meine Familie findet meinen Lesehunger seltsam und unproduktiv, aber das ist mir inzwischen egal. Ich habe damit aufgehört, meiner Familie meine innere Welt näher zu bringen. Es nur anstrengend und bringt nichts außer Ermahnungen, mich um die wirklich wichtigen Dinge wie Hausaufgaben und Lernen zu kümmern, damit ich auf jeden Fall das Abitur schaffe.
Heute habe ich zum Glück wenig Hausaufgaben zu erledigen. Das heißt, später kann ich mit Spike auf der Kellertreppe sitzen, ihn kraulen und ihm von meinem Tag berichten. Das sind für mich immer die schönsten Momente des Tages. Oder ich gehe noch in den nahe gelegenen Wald, was mir meine Mutter nur erlaubt, wenn es hell ist. Dort denke ich mir Geschichten aus, spreche manchmal mit den Bäumen und Käfern (aber behaltet das bitte für euch) und höre dem Wind zu.
Die Abende, die meine Familie verbringt, finde ich meistens langweilig. Mein Vater schaut gerne Fernsehen und redet so gut wie gar nicht mit uns. Nicht reden ist für mich in Ordnung, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass er gar nichts mit uns zu tun haben möchte. Mit Spike kann ich einfach zusammen schweigen und fühle mich stark mit ihm verbunden, bei meinem Vater ist das nicht so. Meistens bleibe ich nach dem Abendessen aus Höflichkeit noch eine halbe Stunde im Wohnzimmer und gucke irgendeine Sendung, die mich überhaupt nicht interessiert, mit. Dann gehe ich meistens in mein Zimmer. Meine Mutter hat mich wirklich schon einmal gefragt, warum ich so komisch sei, so anders. Die Frage konnte ich nicht beantworten, denn ich bin einfach anders. 


Fortsetzung folgt








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