Sonntag, 24. März 2019

#003.3 - Hannah - Ich bin anders

#003.3 - Hannah - Ich bin anders
(Die Welt eines hochsensiblen Kindes)

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)



Heute kommt wieder Hannah zu Wort. Sie ist 11 Jahre alt
und wohnt im Erdgeschoss. 


Ich bin anders und das ist gut so
Anna, hast du nachher Zeit?“, frage ich meine Freundin am Telefon, „dann komme ich in einer halben Stunde bei dir vorbei.“ „Ist alles in Ordnung?“ antwortet sie mir. Es rauscht in der Leitung. „Es ist alles okay, ich möchte dir nur etwas erzählen“, sage ich, „bis gleich!“
Ich sage meiner Mutter Bescheid, dass ich kurz weg bin, schnappe mir mein Fahrrad und fahre los. „Hallo Spike“, begrüße ich den Kater, der neben der Haustür liegt und entspannt beobachtet, was um ihn herum passiert.
Anna wohnt nicht weit entfernt. Sie wohnt mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester in einem Einzelhaus mit Garten. Ich bin immer sehr gern dort. „Hallo Hannah“, begrüßt mich Annas Mutter an der Haustür. „Hallo, ist Anna oben?“, frage ich. „Ja“, sagt sie und lässt mich vorbei.
Jetzt bin ich aber gespannt“, sagt Anna zur Begrüßung.
Frau Müller möchte mit meinen Eltern über meine besondere Begabung sprechen“, falle ich mit der Tür ins Haus.
Welche Begabung meint sie?“ fragt Anna, „Manchmal bist du zwar ein bisschen verträumt und abwesend, aber ansonsten ganz normal finde ich.“
Frau Müller meint, dass ich hochsensibel bin. Sie hat mir auch ein Buch zu diesem Thema gegeben.“ Anna sieht mich mit großen Augen an.
Ich nehme wohl mehr wahr als andere und bin deshalb oft so müde, weil es soviel ist“, erkläre ich ihr, „das Gute daran ist, dass ich mehr mitbekomme, auch manchmal Dinge, die eigentlich nicht sichtbar sind. Ich spüre, wie andere sich fühlen, ob sie Streit haben oder ob gerade etwas sehr Schönes passiert.“
Nachdenklich sieht mich Anna an. „Du hast Recht“, sagt sie, „mir ist das bei dir auch schon aufgefallen. Meistens weißt du, wie es mir geht. Das fand ich manchmal unheimlich. Man kann dir echt nichts vormachen.“ Da kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.“Wolltest du deshalb mitten in der Kinovorstellung bei meiner letzten Geburtstagsfeier unbedingt nach Hause, weil bei dem Film soviel los war?“ Anna sieht mich an. Diese Anekdote ist mir ein bisschen peinlich, ehrlich gesagt. Ich bin wirklich nach Hause gefahren, weil ich die Lautstärke, die schrillen Bilder und die ganzen Menschen mit Popcorn und Eis einfach nicht mehr ausgehalten habe. Anna hatte mich später gefragt, ob sie etwas falsch gemacht hat. Das habe ich natürlich verneint und gemurmelt, dass ich Bauchweh hatte. „Ich hatte kein Bauchweh an dem Nachmittag, es war mir einfach alles zu viel“, muss ich heute zugeben. „Ach so“, sagt Anna.
Meinst du, ich sollte meinen Eltern die Telefonnummer von Frau Müller geben? Sie will mit meinen Eltern darüber sprechen.“ „Na klar“, sagt Anna, „ es doch keine Krankheit, oder?“ „Nein, nach dem Buch überhaupt nicht. Es ist eine Eigenschaft, die man nicht ändern kann, so ähnlich wie die Augenfarbe“, erkläre ich ihr.
Wir sprechen noch eine Weile über dieses Thema und dann verabschiede ich mich.
Zu Hause gehe direkt zu meiner Mutter in die Küche und überreiche ihr den Zettel mit der Telefonnummer. „Was hast du angestellt?“, fragt sie mich. „Gar nichts, Frau Müller will dir einfach etwas erzählen“, antworte ich. „Aha.“ Das ist die einzige Reaktion.
Was die Erwachsenen miteinander besprochen haben, weiß ich nicht. Meine Mutter sieht mich manchmal fragend an, gibt sich aber Mühe, meine Eigenheiten nicht mehr allzu sehr zu kritisieren. Wenn ich zum Beispiel nicht mit ins Kino möchte, ist das neuerdings kein Problem mehr. Meistens werde ich jetzt in Ruhe gelassen, das tut mir gut.
In der Schule habe ich mich bei der Schreib-AG angemeldet. Die anderen sind zwar alle älter als ich, aber es ist toll, dort unter gleichgesinnten Geschichten-Liebhabern zu sein. Ich werde auch nicht komisch angesehen oder ausgelacht. Beim Schulfest habe ich sogar eine meiner Geschichten vorgelesen und dafür viel Applaus erhalten. Dabei hatte ich sogar das Gefühl, dass meine Eltern ein bisschen stolz auf mich sind. Leon lästert viel über mich, aber das ist mir egal.
Demnächst planen wir in der Schreib-AG, einen Poetry Slam zu veranstalten. Einerseits freue ich darauf, weil ich schon viele Ideen habe, was ich schreiben könnte, andererseits möchte ich auch nicht soviel von mir zeigen. Auf jeden Fall möchte ich aber etwas vortragen. Im Internet habe ich mir ein paar Poeten angesehen und war richtig begeistert davon. Wer weiß, wohin das alles führen wird.


Frau Müller unterstützt mich und fragt mich oft, was ich so mache und wie es mir geht. Neulich sagte sie mit einem Augenzwinkern, dass wir Hochsensiblen zusammenhalten müssten. Sie hat Recht, finde ich.
Ende

Sonntag, 17. März 2019

003.2 - Hannah - Verwirrende Erkenntnisse

003.2 - Hannah - Verwirrende Erkenntnisse

(Die Welt eines hochsensiblen Kindes)

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Hannah erzählt Euch heute mehr aus ihrem Leben. Sie ist 11 Jahre alt
und wohnt im Erdgeschoss.

Verwirrende Erkenntnisse
Da bin ich wieder, das merkwürdige Kind, das irgendwie immer aus dem Rahmen fällt und anderen damit oft auf die Nerven geht.
Frau Müller, meine Klassenlehrerin, die mich komischerweise ernst nimmt und ganz normal behandelt, hat mich gestern, nachdem es zur Pause geklingelt hatte, angesprochen.
Hannah, ich habe dir mal meine private Telefonnummer aufgeschrieben. Ich würde mich freuen, wenn mich deine Mutter oder dein Vater bei Gelegenheit einmal anruft.“ Ich schaute sie daraufhin alarmiert an.
Keine Angst“, beruhigt sie mich, „ ich möchte mich einfach einmal mit Deinen Eltern über deine besonderen Begabungen unterhalten.“ „Besondere Begabungen?“, wunderte ich mich, „wie kommen Sie darauf?“
Du bist ein Kind mit besonderen Begabungen, die oft übersehen werden. Du bist sehr wahrscheinlich hochsensibel und nimmst mehr wahr als normal sensible Menschen. Hochsensible Menschen brauchen aufgrund dieser Fähigkeit mehr Pausen und mehr Rückzugsmöglichkeiten, weil sie sonst das Gefühl haben, durchzudrehen. Ich denke, das kommt dir doch sicherlich bekannt vor, oder?“, sie sah mich durchdringend an, „ich selbst gehöre auch zu dieser Gruppe, wir sind ungefähr 10 bis 20 Prozent, die so sind. Also, du bist nicht allein.“ Sie zwinkerte mir zu. Ich war sehr verwirrt und fragte mich, wie meine Mutter auf diese Nachricht reagieren würde.
Ich glaube, es ist nicht so eine gute Idee, das meinen Eltern zu erzählen. Sie verstehen sowieso nicht, wie ich bin“, antwortete ich.
Das lasse mal meine Sorge sein“, sagte sie und gab mir noch ein Buch, „wenn du magst, kannst du dich über deine besonderen Fähigkeiten informieren. Es ist toll, wenn man das alles kann und es ist sehr wichtig für diese Welt, genauso wichtig wie die Fähigkeiten, die die „normalen“ Mitmenschen haben.“
Danke“, stotterte ich und nahm das Buch an mich.

Gestern Nachmittag hatte ich das Buch schon halb durchgelesen, obwohl ich eigentlich für die Mathearbeit lernen musste. Fast alles, was dort steht, trifft auf mich zu. Ich kann nur darüber staunen, besonders darüber, dass es anscheinend noch mehr von meiner Sorte gibt. Meiner Mutter habe ich noch nichts davon erzählt.
Als ich ungefähr in der dritten Klasse war, hatte ich sie gefragt, ob sie auch den Grund der Welt sehen könne, so als wäre alles aus Glas. Und ob sie spüren könne, wie Bäume, Sterne, Menschen und Tiere alle zusammengehörten und miteinander sprachen. Sie hat mich nur verstört angesehen und irgendetwas wie „So ein Quatsch“ gemurmelt. Seitdem habe ich meine Beobachtungen über die Welt für mich behalten. Im Gegensatz dazu hatte Spike, der Kater, mich mit einem verständnisvollen Blick angesehen und wusste genau, was ich meinte.
Auch steht in dem Buch, dass hochsensible Menschen Ungerechtigkeiten kaum aushalten. Das ist bei mir auch so, mir tut das richtig körperlich weh. Außerdem zucke ich immer zusammen, wenn ich miterleben muss, dass Kinder oder Hunde angeschrien werden. Dann fühle ich einen tiefen Schmerz in meinem Herzen, weil ich das einfach unfair finde. Kinder und Hunde können sich schlecht gegen Erwachsene wehren.
Ich überlege, ob ich erst mit Anna darüber spreche, bevor ich die Telefonnummer von Frau Müller an meine Eltern weitergebe. Das ist wahrscheinlich besser, denn ich möchte nicht noch mehr Probleme zu Hause bekommen. Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass seine Mutter, also meine Oma, die ich leider nie kennengelernt habe, weil sie so früh verstorben ist, Geschichten schrieb und gerne unter Bäumen saß und dem Rascheln der Blätter im Wind zuhörte. Wahrscheinlich habe ich das alles von ihr geerbt.
Je länger ich aber darüber nachdenke, umso besser finde ich es, wie ich bin. Abends in meinem Zimmer die Lichtspiele, die vorbeifahrende Autos an meine Tapete werfen zu beobachten und mir dabei Geschichten über Lichtwesen und Feen auszudenken, ist für mich spannend, meiner Meinung nach viel interessanter als die langweiligen Zeichentrickfilme, die Leon im Fernsehen schaut.

Das Normale, wie zum Beispiel fernsehen oder mit dem Handy komische Spiele spielen, die nervige Geräusche machen, finde ich öde und habe mich schon immer gefragt, warum so viele das ständig tun. Wenn ich Gespräche, die mein Bruder Leon mit seinen Freunden führt, aufschnappe, sind diese aus meiner Sicht ebenfalls langweilig. Mir würde etwas fehlen, wenn mein Leben nur aus diesen „normalen“ Dingen bestehen würde. Was ist überhaupt „normal“? Das, was die meisten tun? Und ist es deshalb besser? Warum reize ich manche so sehr mit meiner Art, z. B. meine Mutter oder die Jungs im Bus? Ich lasse doch alle anderen in Ruhe, die gerne mit ihren Handy herum daddeln. Ich wünsche mir nur manchmal innerlich, dass sie doch bitte Ohrhörer benutzen, damit nicht jeder die schrillen Geräusche mit anhören muss.
Ich gehe gleich noch mal Spike draußen suchen, um das mit ihm zu diskutieren. Dann werde ich entscheiden, ob ich jemanden einweihen möchte, dass ich anscheinend hochsensibel bin. Komisches Wort, finde ich.
Fortsetzung folgt

Sonntag, 10. März 2019

#003.1 - Hannah ist anders

#003.1 - Hannah ist anders

(Die Welt eines hochsensiblen Kindes)

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)



Heute erlebt Ihr einen Tag im Leben von Hannah. Hannah ist 11 Jahre alt und wohnt im Erdgeschoss. 


Hannah ist anders



Guten Morgen! Ich heiße Hannah und ich bin anders. Das sagen zumindest die anderen. Die anderen sind zum Beispiel meine Eltern, mein älterer Bruder Leon, meine Klassenkameraden und natürlich die Lehrer an meiner Schule. Nein, an dieser Stelle korrigiere ich mich, meine Klassenlehrerin Frau Müller sagt es nicht. Sie ermutigt mich, so zu sein, wie ich bin. Aber ich greife vor, denn Ihr seid ja eingeladen, mich heute durch meinen Tag zu begleiten. Dann könnt Ihr Euch vielleicht ein eigenes Bild machen.
Ich wohne mit meiner Familie im Erdgeschoss in einer gemütlichen, aber relativ kleinen Wohnung. Mein Bruder und ich haben jeweils ein eigenes Zimmer. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, gab es das Experiment eines gemeinsamen Kinderzimmers mit meinem Bruder, weil mein Vater eines der Zimmer in der Wohnung als Büro nutzen wollte. Das Experiment dauerte zum Glück nur drei Monate. Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, aber es muss furchtbar für alle Beteiligten gewesen sein.
Ich bin gerne für mich alleine, lese sehr viel, träume vor mich hin und schaue in Bäume und denke mir Geschichten aus. Die Tür meines Kinderzimmers ist oft zu und es stört mich sehr, wenn Leon mit seinen Freunden nachmittags durch die Wohnung tobt. Lärm kann ich gar nicht ertragen, Lärm kreischt in meinem Kopf. Wenn es zu laut wird, gehe ich meistens nach draußen und suche Spike, unseren Hauskater. Spike ist mein bester Freund und er versteht alles, was ich ihm erzähle. Und ich verstehe, was er mir mitteilen will. Zumindest bin ich davon überzeugt, dass es so ist. Er kennt meine Geheimnisse und Geschichten und ich seine.
Aber genug der Vorrede. Mein Tag beginnt meistens um 6.30 Uhr. Meine Mutter weckt mich und ermahnt mich, nicht zu trödeln, damit ich den Schulbus erwische. Meistens habe ich keine Lust, zur Schule zu gehen. Das meiste, was wir dort lernen, interessiert mich nicht besonders und meine Klassenkameraden finden mich mehrheitlich komisch, so dass ich oft einfach übersehen und ignoriert werde.
Ich habe zwei gute Freundinnen Marie und Anna und das genügt mir. Manchmal fühlt es sich nicht gut, so anders zu sein, wenn es zum Beispiel um Gruppenarbeiten geht, weil mich außer Marie und Anna niemand wegen meines uncoolen Verhaltens in seiner Gruppe haben möchte. Auch das Auswählen der Mannschaften im Sportunterricht ist für mich sehr deprimierend. Ich bin immer die Vorletzte, die ausgewählt wird. Die Letzte ist Marion. Marion ist übergewichtig und im Sport ziemlich unbegabt. Aber ich greife schon wieder vor. ….
Hannah, vergiss nicht, dein Mathebuch einzupacken. Herr Schmidt sagte beim letzten Elternsprechtag, dass du es oft nicht dabei hast“, erinnert mich meine Mutter. Sie reicht mir meine Brotdose mit dem langweiligen Käsebrot und dem obligatorischen Apfel darin. „Und denke daran, dich mehr im Unterricht zu beteiligen, ansonsten bekommst wieder schlechte Noten im Zeugnis und du musst unbedingt das Abitur schaffen. Ohne Abitur gibt es wenig berufliche Perspektiven. Es kann doch nicht so schwer sein, öfter mal die Zähne auseinander zu bekommen“, fuhr meine Mutter fort. Es ist immer die gleiche Leier. Anscheinend wünschen sich meine Eltern ein anderes Kind, auf keinen Fall mich, die so kompliziert, wie ich bin. Aber ich bin ein bisschen wie eine Schildkröte und ziehe mich bei diesen Monologen von meiner Umwelt in meinen sicheren inneren Panzer zurück.
Tschüss Mama“, verabschiede ich mich und greife nach meinem Rucksack.
Der Bus ist – wie jeden Morgen – total überfüllt. Ich kann es kaum ertragen. Die Gerüche, die Stimmungen, die Lautstärke und die Enge. Wenn ich in der Schule ankomme, fühle ich mich total erschöpft. Außerdem werde ich gerne von einer Gruppe älterer Jungs als williges Opfer ausgewählt. Sie haben schon den Katzenanhänger von meinem Rucksack abgerissen, in den Dreck geworfen und mich ausgelacht, weil ich deswegen geweint habe. Das ist mein Glücksbringer, weil die Katze darauf wie Spike aussieht und ich hatte dadurch das Gefühl, Spike ist als Beschützer immer bei mir. Das war ein sehr trauriger Tag, als sie mir das angetan haben. „Heulsuse, Heulsuse!“, schrien sie mir zu. Ihr Anführer Jan begrüßt mich fast jeden Morgen mit: „Na, Heulsuse.“ Das kann ich mittlerweile fast ignorieren, ein bisschen wie die Monologe meiner Mutter, bei denen ich auch meistens auf Durchzug schalte.
Wenn die Busfahrt überstanden ist, geht der Schultag mit allen seinen kleinen und großen Gemeinheiten los. Allein der Geruch in dieser Schule ist unglaublich unangenehm. Es riecht nach Staub, billigem Putzmittel, Schweiß, den Parfum- und Deoexperimenten meiner Mitschüler und eben nach Schule im allgemeinen. Ich habe Anna mal versucht zu schildern, wie ich diesen Geruch wahrnehme. Sie meinte, ich spinne ein bisschen. Sie könne nur riechen, wenn die dicke Marion wieder ihr Deo vergessen habe. Seitdem habe ich meine Beobachtungen und Wahrnehmungen lieber für mich behalten.
Während der meisten Unterrichtstunden schaue ich aus dem Fenster und fühle mich eingesperrt. Die Pausen sind nur gut, wenn ich sie mit Anna und Marie in einer Schulhofecke verbringe. Wir essen dann unser zweites Frühstück und lästern ein bisschen über die Lehrer und einige Mitschüler. Bei den beiden fühle ich mich wohl. Sind noch weitere Mitschüler in der Nähe, bin ich gestresst, weil es dann meistens laut und unangenehm wird. Irgendjemand versucht dann meistens, die anderen zu übertrumpfen mit Markenklamotten oder damit, welches coole Handy als nächstes gekauft wird. Ich finde solche Gespräche ziemlich ermüdend und sinnlos, weil mich Markenkleidung und Handys nicht interessieren. Auch bei den angesagten Serien auf Netflix oder Computerspielen kann ich nicht mitreden, weil ich es total anstrengend finde, lange auf Bildschirme zu starren. Blutige Krimis und Ballerspiele, die Leon auch gerne spielt, wühlen mich so sehr auf, dass ich nachts nicht schlafen kann. Das würde ich natürlich niemals in einer größeren Gruppe zugeben, nur Marie und Anna wissen davon. Und so bin ich in größeren Gruppen immer die langweilige Schüchterne, die nie irgendetwas Interessantes erzählt.
Die Stunden mit unserer Klassenlehrerin Frau Müller gefallen mir. Sie unterrichtet Deutsch und Geschichte. Ich mochte sogar im letzten Halbjahr die Gedichte, die wir interpretieren mussten. Meine Klassenkameraden fanden das Thema so öde, ich hingegen konnte mich darin so richtig verlieren. Ich finde sogar, dass manche Gedichte wie Musik klingen, die ich wahrhaftig in mir hören kann. Das habe ich natürlich niemandem außer Spike erzählt. Spike hat daraufhin gesagt, dass für ihn der Wind wie ein Gedicht klinge. Je nachdem, ob er um die Garagen oder durch die Bäume wehe, werde ein ganz eigener Klang erzeugt. Spike und ich haben dann lange dem Wind zugehört und den Klang tief in unserem Herzen empfunden. Daraus werde ich demnächst ein Gedicht schreiben, was ich nur Spike vorlesen werde.
Frau Müller behandelt mich wie eine normale Schülerin und interessiert sich wirklich für meine Sichtweise auf die Welt. Das rechne ich ihr hoch an. Sie sagte neulich, „Hannah, erzähle uns doch mal, was du über diesen Text denkst. Du hast immer so besondere und schöne Gedanken.“ Meine Klassenkameraden haben nur hämisch gekichert, aber das war mir in dem Moment egal und habe meine Gedanken unzensiert preisgegeben, was in der Klasse noch hämischer kommentiert wurde. Frau Müller hat mich gelobt und gesagt, dass mein Beitrag sehr wertvoll sei.
Bis auf diese kleinen Inseln mit meinen beiden Freundinnen und Frau Müller ist der Schultag ein einziger Kampf für mich. Wenn ich zu Hause bin, denke ich oft, dass ich wieder einen Tag geschafft habe und mich endlich in meinem Zimmer ausruhen kann. Wenn ich nichts mehr zu lesen habe, gehe ich in die Bücherei und hole mir neue Bücher. Meine Familie findet meinen Lesehunger seltsam und unproduktiv, aber das ist mir inzwischen egal. Ich habe damit aufgehört, meiner Familie meine innere Welt näher zu bringen. Es nur anstrengend und bringt nichts außer Ermahnungen, mich um die wirklich wichtigen Dinge wie Hausaufgaben und Lernen zu kümmern, damit ich auf jeden Fall das Abitur schaffe.
Heute habe ich zum Glück wenig Hausaufgaben zu erledigen. Das heißt, später kann ich mit Spike auf der Kellertreppe sitzen, ihn kraulen und ihm von meinem Tag berichten. Das sind für mich immer die schönsten Momente des Tages. Oder ich gehe noch in den nahe gelegenen Wald, was mir meine Mutter nur erlaubt, wenn es hell ist. Dort denke ich mir Geschichten aus, spreche manchmal mit den Bäumen und Käfern (aber behaltet das bitte für euch) und höre dem Wind zu.
Die Abende, die meine Familie verbringt, finde ich meistens langweilig. Mein Vater schaut gerne Fernsehen und redet so gut wie gar nicht mit uns. Nicht reden ist für mich in Ordnung, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass er gar nichts mit uns zu tun haben möchte. Mit Spike kann ich einfach zusammen schweigen und fühle mich stark mit ihm verbunden, bei meinem Vater ist das nicht so. Meistens bleibe ich nach dem Abendessen aus Höflichkeit noch eine halbe Stunde im Wohnzimmer und gucke irgendeine Sendung, die mich überhaupt nicht interessiert, mit. Dann gehe ich meistens in mein Zimmer. Meine Mutter hat mich wirklich schon einmal gefragt, warum ich so komisch sei, so anders. Die Frage konnte ich nicht beantworten, denn ich bin einfach anders. 


Fortsetzung folgt








Dienstag, 5. März 2019

#002.3 - Miriam - Das Leben ist ein Fluß

#002.3 - Miriam - Das Leben ist ein Fluß

(Gedanken zum Minimalismus)

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Wir zoomen uns wieder in den 1. Stock links und beobachten die
weiteren Aktivitäten und Gedanken von Miriam.

Veränderungen fordern heraus oder das Leben ist ein Fluss



Am nächsten Morgen klatschten dicke Regentropfen an mein Fenster. Mein zweiter Blick fiel auf die Plastiksäcke mit der aussortierten Kleidung. Ein Gefühl von Stolz stieg in mir hoch. Ich hatte es gestern wirklich durchgezogen. Der innere Schweinehund Horst legte mir von hinten seine Pfote auf meine Schulter und flüsterte: „Jetzt hast Du gestern soviel geschafft. Lege doch heute eine Pause ein.“ Das war eine sehr verlockende Idee, aber mein Stolz und meine Motivation besiegten Horst und ich stand auf. Es war kein Aufspringen eher ein Schleichen, aber immerhin konnte der Tag außerhalb von Laptop (Netflix) oder Fernseher beginnen.
Während das heiße Wasser durch die Kaffeemaschine lief und sich ein köstlicher Duft in der Küche ausbreitete, plante ich den weiteren Tag. Mein Sohn würde gegen 17.00 Uhr von seinem Vater-Wochenende zurückkehren und bis dahin wollte ich einen weiteren großen Brocken erledigt haben. Auf jeden Fall wollte ich die Plastiksäcke mit der aussortierten Kleidung zu den Containern des Sozialkaufhauses bringen, damit ich in einer schwachen Minute nicht wieder beginnen würde, Teile daraus hervorzuholen.
Während ich mich für meine nächsten Aktionen mit Kaffee und Brötchen stärkte, startete ich auf meinem Smartphone ein Video meiner YouTube-App. Es zeigte eine hübsch geschminkte junge Frau, die ebenfalls ihren Kleiderschrank entrümpelte. Sie schien wenig „Horst“-Probleme zu haben und wirkte sehr aufgedreht. Meine Gedanken dazu waren, dass der Vergleich mit anderen nicht viel bringt. Die Einwände meines inneren Schweinehundes wollte ich zukünftig einfach in den Prozess integrieren. Ich war halt ich und Horst war Horst, also musste ein konstruktiver Weg gefunden werden, damit umzugehen. In einem Buch, was ich vor einigen Wochen gelesen hatte, schlug der Autor vor, sich zu einem bestimmten, späteren Zeitpunkt mit dem inneren Schweinehund zu verabreden und seine Einwände dann mit ihm auszudiskutieren. Die Idee fand ich interessant und beschloss, falls Horst anfangen sollte, mich zu sehr zu blockieren, dieses Vorgehen auszuprobieren.
Das Einräumen meiner Lieblingskleidung in die Boxen und anschließend in meinen Schrank fand ich toll. Noch gestern hatte ich meinen Schrank geputzt und nahm ich den schwachen Geruch des Lavendel-Reinigers während des Einsortierens wahr. Das fühlte sich großartig an. Nachdem ich mich ein paar Mal umentschieden hatte, wohin ich die Sachen wirklich räumen wollte, war es vollbracht: Ein aufgeräumter Kleiderschrank nur mit Lieblingsteilen! Super!
An diesem Tag schaffte ich es tatsächlich, die Plastiksäcke zum Sozialkaufhaus-Container zu bringen. Ich stellte mir bildlich vor, wie sehr sich andere über die Sachen freuen würden. Außerdem war ich so im Flow, dass ich am Ende des Tages die Schuhe und Taschen ebenfalls abhaken konnte.
Abends war mein Sohn wieder da und erzählte von seinem Wochenende und dem Kinofilm, den er mit seinem Vater geschaut hatte. Nachdem er sich nach dem Abendessen in sein Zimmer zurückgezogen hatte, rief ich meine Kollegin an, die mir das Entrümpelungsbuch geliehen hatte.
Hallo Elena“, sagte ich, „danke nochmal für das Buch. Dieses Wochenende habe ich bei meiner Kleidung begonnen. Ich bin zwar erledigt, fühle mich aber hochmotiviert, weiter zu machen. Es fühlt sich richtig gut an.“ Elena war die Kollegin, die sehr viel Ruhe ausstrahlte und die in meinem Team immer wie ein Fels in der Brandung war.
Sehr gerne, Miriam“ , antwortete sie, „ich habe das, was Du dieses Wochenende gestartet hast, vor eineinhalb Jahren begonnen und es hat mittlerweile alle meine Lebensbereiche erreicht. Ich esse gesünder und habe, wie Du ja weißt, meine Zuckersucht überwunden. Die Bürokekse habt ihr ja seit einem halben Jahr ganz für euch. Außerdem habe ich mich vor kurzem von Rainer getrennt. Er war ein echter Bremsklotz für mich und mein Leben, ständig negativ eingestellt und immer nur bei der Arbeit.“ „Das hattest du mir gar nicht erzählt“, erwiderte ich, „es tut mir irgendwie leid, das zu hören. Ich fand Rainer sehr nett und war eigentlich der Meinung, dass ihr beide gut zusammen passt.“ „Rainer ist definitiv ein netter Mann, er passt nur leider nicht mehr zu mir“, sagte Elena, „Dinge und Menschen verändern sich und die Klarheit, die ich momentan in meinem Leben habe, hat es deutlich gezeigt, dass wir als Paar nicht mehr funktionieren. Es ist zwar schade, aber so ist das Leben. Lass uns morgen in der Mittagspause zusammen essen gehen und ich erzähle dir noch mehr über die Sache.“
Okay, machen wir. Ich wünsche dir einen schönen Abend und bis morgen“, schloss ich unser Telefonat.
Nachdenklich blickte ich auf meine Teetasse. Es konnte einem schon angst und bange werden angesichts der Veränderungen, die meine Kollegin anscheinend durchlebte. Ich fragte mich, ob ich über das Sortieren von Gegenständen hinaus weitere Veränderungen in meinem Leben haben wollte. „Wahrscheinlich muss man einfach auf sich zukommen lassen, was passieren wird“, dachte ich, „das Leben fließt wie ein Fluss und nichts bleibt so, wie es war.“ Mit diesen Gedanken, die einerseits beängstigend und andererseits spannend waren, beendete ich den Tag. Vor dem Zubettgehen warf ich noch stolz einen Blick in meinen aufgeräumten Kleiderschrank und freute mich in diesem Moment auf alles, was das Leben noch für mich bereit halten würde.
Ende #002