Sonntag, 12. März 2023

#007.16 – Jessica – Frisbee-Scheiben

 

#007.16 – Jessica – Frisbee-Scheiben

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
 meiner Geschichten. :-)

 


Heute schreibe ich Euch, wie es mit Jessica weitergeht.
Die kleine Liebesgeschichte mit Flo ist aus.
Sie wohnt im zweiten Stock links.

Frisbee-Scheiben


Es war Sonntagvormittag und draußen rauschte der Wind in den kahlen Bäumen und rüttelte an einem losen Blumenkasten auf Jessicas Balkon.

Nach dem Kaffee im Bett hatte Jessica noch eine Weile über Flo gegrübelt und dann zu dem Buch gegriffen, das auf dem Nachtschrank lag. Der abgründige Kriminal-Roman lenkte sie ab. Die Vorsätze der letzten Nacht sickerten nach einigen Kapiteln wieder in ihr Bewusstsein ein. Der unordentliche Wohnzimmerschrank und die Internet-Recherche zu beruflichen Fortbildungen standen auf ihrer gedanklichen zu-erledigen-Liste. Im Bett war es gemütlich und warm, allerdings war der Becher Kaffee leer. Außerdem hatte sie langsam Appetit auf ein richtiges Frühstück. Mit den Gedanken an Toastbrot, Frühstücksei und Fruchtjoghurt, tauchte Flo wieder in ihrem Kopf auf. Jessica seufzte, irgendwie fühlte sich das Leben gerade verzwickt an.

Auf dem Weg zur Küche schaute sie in den Flurspiegel. Ihr Gesicht war blass und die Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Vielleicht wäre eine Dusche vor dem Frühstück eine bessere Idee? Das war tatsächlich ein Aufräum-Motivationstipp von ihrer Freundin Tina. Sie hatte behauptet, dass duschen, anziehen und ein tagestaugliches Styling die Produktivität, besonders im Hinblick auf häusliche Aussortiertätigkeiten, steigern könnte. Jessica war skeptisch. Dem Wohnzimmerschrank konnte es doch egal sein, ob sie sich im Schlafanzug oder in Jeans und Pulli der Unordnung in seinen Tiefen widmen würde. Sie entschied sich für einen Kompromiss. In der Küche aß sie ein wenig Obst, weil sie mittlerweile richtig hungrig war, dann war die Dusche dran.

Das warme Wasser war angenehm, das Shampoo duftete dezent nach Mandeln. Jessica schloss die Augen und genoss diesen Moment eingehüllt in Wasserdampf und Mandelduft im warmen Bad. Der Druck in der Herzgegend ließ ein wenig nach. Tinas Tipp hatte tatsächlich etwas bewirkt, sie fühlte sich nach der Dusche frischer und motivierter.

Mit Jeans, einem Pullover und warmen Socken an den Füßen gekleidet stieg ihre Laune. Ihre Haare waren noch nass und das Gesicht ungeschminkt. Die Kaffeemaschine blubberte vor sich hin, das Brot röstete im Toaster und auf dem Tisch standen die Lieblingskäsesorte und frisches Obst. Die Sprecherin der Nachrichtensendung im Radio berichtete von dem aktuellen Wahnsinn außerhalb von Jessicas Wohnung und im Anschluss dudelte ein schnulziger Popsong aus dem Lautsprecher. Sofort war Flo in Jessicas Gedanken wieder da und das Lied versetzte ihr einen Stich. Wieder trommelten Hagelkörner gegen die Fensterscheibe. ‚Ich werde heute keinen Schritt vor die Tür gehen‘, dachte sie, ‚höchstens in den Keller, um ein paar Kisten zum Sortieren zu holen.‘ Selbst dieser Weg erschien ihr angesichts des Wettertreibens da draußen ziemlich weit.

Nachdem die Wochenzeitung mit vielen Werbeblättchen durchgeblättert war, gab es keine Ausrede mehr. Der Schrank mit den unordentlichen Schubladen und Fächern wartete im Wohnzimmer.

Zwanzig Minuten später sah das Wohnzimmer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Auf dem Boden verteilten sich CD’s, Bücherstapel, Ordner, Spiele, schöne, seltsame (von Tante Erika) und hässliche Deko, Fotoalben mit vergilbten Seiten und Krimskrams in jeglicher Form. Dieser Schrank war eine einzige Überraschung.

Die Mülltüte füllte sich, einige Dinge waren einfach kaputt. Warum hatte sie diese Sachen überhaupt in Umzugskisten gepackt und später in dieser Wohnung in den Schrank? Darauf hatte sie keine Antwort, außer, dass das Packen seinerzeit schnell gehen musste.

Wieder kamen Erinnerungen an die Zeit mit Michael hoch. Die kantige Designer-Vase hatte er ihr vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt. Damals stand darin ein sorgfältig arrangierter Blumenstrauß. Die Vase war, trotzdem sie sicherlich teuer gewesen war, nicht ihr Geschmack. Ein Strauß mit struppigen Wiesenblumen, die sie im Sommer gern pflückte, und die Vase passten nicht zusammen. ‚So wie Michael und ich‘, dieser Gedanke war wieder ein innerer kleiner Dolchstoß. Damit war klar, dass die Vase die Wohnung verlassen würde. Nicht in der Mülltüte, aber in einem Karton mit Dingen, die sie spenden wollte.

Eine halbe Stunde später saß Jessica mit einer Taschentuchbox in dem Wohnzimmer-Chaos und weinte. Sie konnte sich nicht beruhigen, diese Mischung aus Liebeskummer wegen Flo und den vielen Erinnerungen aus ihrer vorherigen Beziehung war überwältigend. Dazu gesellte sich das Gefühl, ganz allein auf dieser Welt zu sein, während Regen, Hagel und kleine Schneeflocken im Mix draußen zu Boden sanken. Jessica ließ den Tränen freien Lauf, sie spülten alles nach Außen, was sich tief in ihrem Inneren verborgen hatte. Zu den Dingen, die kreuz und quer auf dem Fußboden verteilt waren, gesellte sich ein kleiner Berg zerknüllter Taschentücher.

Das Handy auf dem Wohnzimmertisch brummte. Eine Nachricht von Tina erschien auf dem Display. Schniefend griff Jessica nach dem Telefon und las:

Hey Jessica, hast du Lust nachher um ca. 18.00 Uhr bei mir vorbeizukommen? Ich hatte gestern Besuch und es gibt noch ganz viel Pasta-Auflauf in meinem Kühlschrank. Eine Flasche Rotwein ist auch noch da. 😊 LG Tina

Die Uhr zeigte 16.34 Uhr an. Bis zu Tinas Wohnung brauchte Jessica ungefähr 15 Minuten mit dem Fahrrad, 25 Minuten zu Fuß. Es war nicht mehr viel Zeit, dieses Durcheinander zu beseitigen. Sie schrieb zurück:

Hallo Tina, danke für die Einladung. Ich komme gerne, allerdings erst gegen 18.30 Uhr. Ich räume gerade meinen Wohnzimmerschrank auf und es herrscht Chaos bei mir… Apropos, brauchst du noch Blumenvasen oder andere Deko? Ich habe unter anderem eine interessant gemusterte Kuchenplatte von Tante Erika im Angebot. Einige CD’s habe ich auch aussortiert. Ich werde ein paar Fotos machen und vielleicht ist ja etwas für dich dabei. Bis später Jessica PS Rotwein ist eine gute Idee.

Jessica fotografierte ein paar Teile auf dem Boden, von denen sie dachte, dass sie ihrer Freundin gefallen könnten. Dann wanderte der Taschentuch-Berg in die Mülltüte. Die Tränenflut war versiegt und sie fühlte sich befreit, aber auch irgendwie innerlich leer.

Nach einem Kaffee in der Küche und einmal durchatmen, räumte sie alles, was bleiben sollte, wieder zurück in den Schrank. Jetzt gab es darin sogar einige leere Flächen. Allerdings tummelte sich auf dem Boden der ganze Kram, der gehen durfte. Jessica musste doch in den Keller, um ein paar Kartons zu holen. Vorsorglich hatte sie nach dem Umzug einige Pappkisten aufbewahrt. Bevor sie die Wohnung verließ, schaute sie wieder in den Flurspiegel und ihr leicht gerötetes Gesicht blickte als Spiegelbild zurück. So war es eben, Tina konnte bestimmt damit leben.

Nach dem Heruntertragen der beschrifteten Kisten in den Keller, verschwanden alle Krümel vom Boden im Staubsaugerrohr. Das Wohnzimmer war wieder betretbar.

Ziemlich erschöpft betrachtete sie den Raum vom Sofa aus. Äußerlich hatte sich nicht viel verändert, trotzdem hatte das Zimmer eine neue frische Energie. Die Internet-Recherche verschob sie auf die nächste Woche. Drei wichtige Erkenntnisse waren die Essenz dieses Wochenendes:

-      Eine Dusche und tagestaugliche Kleidung steigerten die Produktivität. Im Schlafanzug war es schwierig, in die Gänge und zum Ziel zu kommen.

-      Ein Zeitpuffer zum Beenden der Aufräumaktion war sinnvoll, besonders wenn es anschließend noch ein Freundinnen-Treffen gab.

-      Sich nicht zu viel vornehmen, realistische Tagesziele hielten die Motivation aufrecht, lieber in kleinen Schritten und immer dranbleiben.

Dieses Mal wollte sie es schaffen, weil sie ahnte, dass ein Leben ohne Ballast ein echter Neustart werden könnte. Der Blick auf die vielen Erinnerungen war anstrengend, trotzdem hatte es sich heute gelohnt. Jessica fühlte sich befreit und müde. Im Sommer hatte es eine ähnliche Aktion gegeben, sie erinnerte sich an das leichte Gefühl danach. Nur hatte sie anschließend  schnell andere Prioritäten gehabt, unter anderem Flo, so dass der Ballast weiterhin in ihrer Wohnung geblieben war. Das Leben war konsequent und vergleichbar mit einer Frisbee-Scheibe, war Jessicas Fazit am heutigen Tag:

Offene Lebens-Baustellen wurden einer Person gnadenlos so lange präsentiert, bis das Problem erkannt und aufgelöst war. Die Baustellen-Frisbee-Scheibe kam immer wieder zurückgeflogen….

Sie würde nachher nicht so lange bei Tina bleiben und früh ins Bett gehen. Die Traurigkeit wegen Flo und die drückenden Erinnerungen, die an einigen aussortierten Gegenständen im Keller klebten, waren schattengleich noch da, aber hatten an Kraft eingebüßt.

Jessica ging ins Bad und kämmte sich die Haare. Das Gesicht im Spiegel wirkte immer noch gespenstisch blass. Sie freute sich auf ein leckeres Essen mit Tina und lächelte das Gesicht im Spiegel an.

Eine aussortierte CD eines Sängers, den Tina gern hörte, packte sie in ihre Tasche, als sie die Wohnung mit der großen Mülltüte in der Hand verließ. An der Haustür unten wartete der Kater Spike auf eine Gelegenheit, ins Treppenhaus zu seiner kuscheligen Box zu gelangen. Jessica ließ ihn hinein, stellte die Mülltüte ab und kraulte ihn ein wenig. Er maunzte und lief die Treppe zu seiner Box hinauf. Schnell rollte er sich zusammen und schloss die Augen.

Die frische Luft tat trotz der Nässe und Kälte gut. Erstaunlich, morgens war sie davon überzeugt gewesen, heute keinen Schritt vor die Tür zu setzen. Das Fahrrad blieb im Keller. Mit Schwung und einem scheppernden Klirren landete die Mülltüte im großen Plastikbehälter auf dem Hof. Jessica lächelte erleichtert, spannte den Regenschirm auf und verließ das Grundstück in Richtung von Tinas Wohnung. Sie freute sich auf den Abend in der festen Überzeugung, dass sie sich nach dem anstrengenden Tag einen Freundinnen-Plausch mit Rotwein redlich verdient hatte. Auch die Aussicht, sich gleich an einen gedeckten Tisch zu setzen, weckte die inneren Lebensgeister. Sie war zufrieden mit sich und der unperfekten Welt, die sie nach ihren Möglichkeiten von nun an Stück für Stück besser gestalten wollte. Der Ballast, besonders der innere, durfte nach und nach verschwinden. Auf unnötige Lebens-Baustellen-Frisbee-Scheiben hatte sie absolut keine Lust mehr. Schließlich würde irgendwann der Frühling kommen.

Grover Washington Jr.: In the Name of Love


Fortsetzung folgt




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