#007.16
– Jessica – Frisbee-Scheiben
Dies
ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Heute
schreibe ich Euch, wie es mit Jessica weitergeht.
Die kleine Liebesgeschichte mit Flo ist aus.
Sie wohnt im zweiten Stock links.
Frisbee-Scheiben
Es war
Sonntagvormittag und draußen rauschte der Wind in den kahlen Bäumen und
rüttelte an einem losen Blumenkasten auf Jessicas Balkon.
Nach
dem Kaffee im Bett hatte Jessica noch eine Weile über Flo gegrübelt und dann zu
dem Buch gegriffen, das auf dem Nachtschrank lag. Der abgründige Kriminal-Roman
lenkte sie ab. Die Vorsätze der letzten Nacht sickerten nach einigen Kapiteln
wieder in ihr Bewusstsein ein. Der unordentliche Wohnzimmerschrank und die
Internet-Recherche zu beruflichen Fortbildungen standen auf ihrer gedanklichen
zu-erledigen-Liste. Im Bett war es gemütlich und warm, allerdings war der
Becher Kaffee leer. Außerdem hatte sie langsam Appetit auf ein richtiges
Frühstück. Mit den Gedanken an Toastbrot, Frühstücksei und Fruchtjoghurt,
tauchte Flo wieder in ihrem Kopf auf. Jessica seufzte, irgendwie fühlte sich
das Leben gerade verzwickt an.
Auf
dem Weg zur Küche schaute sie in den Flurspiegel. Ihr Gesicht war blass und die
Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Vielleicht wäre eine Dusche vor dem
Frühstück eine bessere Idee? Das war tatsächlich ein Aufräum-Motivationstipp
von ihrer Freundin Tina. Sie hatte behauptet, dass duschen, anziehen und ein
tagestaugliches Styling die Produktivität, besonders im Hinblick auf häusliche
Aussortiertätigkeiten, steigern könnte. Jessica war skeptisch. Dem
Wohnzimmerschrank konnte es doch egal sein, ob sie sich im Schlafanzug oder in
Jeans und Pulli der Unordnung in seinen Tiefen widmen würde. Sie entschied sich
für einen Kompromiss. In der Küche aß sie ein wenig Obst, weil sie mittlerweile
richtig hungrig war, dann war die Dusche dran.
Das
warme Wasser war angenehm, das Shampoo duftete dezent nach Mandeln. Jessica
schloss die Augen und genoss diesen Moment eingehüllt in Wasserdampf und
Mandelduft im warmen Bad. Der Druck in der Herzgegend ließ ein wenig nach.
Tinas Tipp hatte tatsächlich etwas bewirkt, sie fühlte sich nach der Dusche
frischer und motivierter.
Mit
Jeans, einem Pullover und warmen Socken an den Füßen gekleidet stieg ihre
Laune. Ihre Haare waren noch nass und das Gesicht ungeschminkt. Die
Kaffeemaschine blubberte vor sich hin, das Brot röstete im Toaster und auf dem
Tisch standen die Lieblingskäsesorte und frisches Obst. Die Sprecherin der
Nachrichtensendung im Radio berichtete von dem aktuellen Wahnsinn außerhalb von
Jessicas Wohnung und im Anschluss dudelte ein schnulziger Popsong aus dem
Lautsprecher. Sofort war Flo in Jessicas Gedanken wieder da und das Lied
versetzte ihr einen Stich. Wieder trommelten Hagelkörner gegen die
Fensterscheibe. ‚Ich werde heute keinen Schritt vor die Tür gehen‘, dachte sie,
‚höchstens in den Keller, um ein paar Kisten zum Sortieren zu holen.‘ Selbst
dieser Weg erschien ihr angesichts des Wettertreibens da draußen ziemlich weit.
Nachdem
die Wochenzeitung mit vielen Werbeblättchen durchgeblättert war, gab es keine
Ausrede mehr. Der Schrank mit den unordentlichen Schubladen und Fächern wartete
im Wohnzimmer.
Zwanzig
Minuten später sah das Wohnzimmer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Auf
dem Boden verteilten sich CD’s, Bücherstapel, Ordner, Spiele, schöne, seltsame
(von Tante Erika) und hässliche Deko, Fotoalben mit vergilbten Seiten und
Krimskrams in jeglicher Form. Dieser Schrank war eine einzige Überraschung.
Die
Mülltüte füllte sich, einige Dinge waren einfach kaputt. Warum hatte sie diese
Sachen überhaupt in Umzugskisten gepackt und später in dieser Wohnung in den Schrank?
Darauf hatte sie keine Antwort, außer, dass das Packen seinerzeit schnell gehen
musste.
Wieder
kamen Erinnerungen an die Zeit mit Michael hoch. Die kantige Designer-Vase
hatte er ihr vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt. Damals stand darin
ein sorgfältig arrangierter Blumenstrauß. Die Vase war, trotzdem sie sicherlich
teuer gewesen war, nicht ihr Geschmack. Ein Strauß mit struppigen Wiesenblumen,
die sie im Sommer gern pflückte, und die Vase passten nicht zusammen. ‚So wie
Michael und ich‘, dieser Gedanke war wieder ein innerer kleiner Dolchstoß. Damit
war klar, dass die Vase die Wohnung verlassen würde. Nicht in der Mülltüte,
aber in einem Karton mit Dingen, die sie spenden wollte.
Eine
halbe Stunde später saß Jessica mit einer Taschentuchbox in dem
Wohnzimmer-Chaos und weinte. Sie konnte sich nicht beruhigen, diese Mischung
aus Liebeskummer wegen Flo und den vielen Erinnerungen aus ihrer vorherigen
Beziehung war überwältigend. Dazu gesellte sich das Gefühl, ganz allein auf
dieser Welt zu sein, während Regen, Hagel und kleine Schneeflocken im Mix
draußen zu Boden sanken. Jessica ließ den Tränen freien Lauf, sie spülten alles
nach Außen, was sich tief in ihrem Inneren verborgen hatte. Zu den Dingen, die
kreuz und quer auf dem Fußboden verteilt waren, gesellte sich ein kleiner Berg
zerknüllter Taschentücher.
Das
Handy auf dem Wohnzimmertisch brummte. Eine Nachricht von Tina erschien auf dem
Display. Schniefend griff Jessica nach dem Telefon und las:
Hey
Jessica, hast du Lust nachher um ca. 18.00 Uhr bei mir vorbeizukommen? Ich
hatte gestern Besuch und es gibt noch ganz viel Pasta-Auflauf in meinem
Kühlschrank. Eine Flasche Rotwein ist auch noch da. 😊 LG
Tina
Die
Uhr zeigte 16.34 Uhr an. Bis zu Tinas Wohnung brauchte Jessica ungefähr 15
Minuten mit dem Fahrrad, 25 Minuten zu Fuß. Es war nicht mehr viel Zeit, dieses
Durcheinander zu beseitigen. Sie schrieb zurück:
Hallo
Tina, danke für die Einladung. Ich komme gerne, allerdings erst gegen 18.30
Uhr. Ich räume gerade meinen Wohnzimmerschrank auf und es herrscht Chaos bei
mir… Apropos, brauchst du noch Blumenvasen oder andere Deko? Ich habe unter anderem
eine interessant gemusterte Kuchenplatte von Tante Erika im Angebot. Einige
CD’s habe ich auch aussortiert. Ich werde ein paar Fotos machen und vielleicht
ist ja etwas für dich dabei. Bis später Jessica PS Rotwein ist eine gute Idee.
Jessica
fotografierte ein paar Teile auf dem Boden, von denen sie dachte, dass sie
ihrer Freundin gefallen könnten. Dann wanderte der Taschentuch-Berg in die
Mülltüte. Die Tränenflut war versiegt und sie fühlte sich befreit, aber auch
irgendwie innerlich leer.
Nach
einem Kaffee in der Küche und einmal durchatmen, räumte sie alles, was bleiben
sollte, wieder zurück in den Schrank. Jetzt gab es darin sogar einige leere
Flächen. Allerdings tummelte sich auf dem Boden der ganze Kram, der gehen
durfte. Jessica musste doch in den Keller, um ein paar Kartons zu holen.
Vorsorglich hatte sie nach dem Umzug einige Pappkisten aufbewahrt. Bevor sie
die Wohnung verließ, schaute sie wieder in den Flurspiegel und ihr leicht
gerötetes Gesicht blickte als Spiegelbild zurück. So war es eben, Tina konnte
bestimmt damit leben.
Nach
dem Heruntertragen der beschrifteten Kisten in den Keller, verschwanden alle
Krümel vom Boden im Staubsaugerrohr. Das Wohnzimmer war wieder betretbar.
Ziemlich
erschöpft betrachtete sie den Raum vom Sofa aus. Äußerlich hatte sich nicht
viel verändert, trotzdem hatte das Zimmer eine neue frische Energie. Die
Internet-Recherche verschob sie auf die nächste Woche. Drei wichtige
Erkenntnisse waren die Essenz dieses Wochenendes:
- Eine Dusche und tagestaugliche Kleidung steigerten
die Produktivität. Im Schlafanzug war es schwierig, in die Gänge und zum Ziel
zu kommen.
- Ein Zeitpuffer zum Beenden der Aufräumaktion war
sinnvoll, besonders wenn es anschließend noch ein Freundinnen-Treffen gab.
- Sich nicht zu viel vornehmen, realistische
Tagesziele hielten die Motivation aufrecht, lieber in kleinen Schritten und
immer dranbleiben.
Dieses
Mal wollte sie es schaffen, weil sie ahnte, dass ein Leben ohne Ballast ein
echter Neustart werden könnte. Der Blick auf die vielen Erinnerungen war
anstrengend, trotzdem hatte es sich heute gelohnt. Jessica fühlte sich befreit
und müde. Im Sommer hatte es eine ähnliche Aktion gegeben, sie erinnerte sich
an das leichte Gefühl danach. Nur hatte sie anschließend schnell andere Prioritäten
gehabt, unter anderem Flo, so dass der Ballast weiterhin in ihrer Wohnung
geblieben war. Das Leben war konsequent und vergleichbar mit einer
Frisbee-Scheibe, war Jessicas Fazit am heutigen Tag:
Offene
Lebens-Baustellen wurden einer Person gnadenlos so lange präsentiert, bis das
Problem erkannt und aufgelöst war. Die Baustellen-Frisbee-Scheibe kam immer
wieder zurückgeflogen….
Sie
würde nachher nicht so lange bei Tina bleiben und früh ins Bett gehen. Die
Traurigkeit wegen Flo und die drückenden Erinnerungen, die an einigen aussortierten
Gegenständen im Keller klebten, waren schattengleich noch da, aber hatten an
Kraft eingebüßt.
Jessica
ging ins Bad und kämmte sich die Haare. Das Gesicht im Spiegel wirkte immer
noch gespenstisch blass. Sie freute sich auf ein leckeres Essen mit Tina und
lächelte das Gesicht im Spiegel an.
Eine
aussortierte CD eines Sängers, den Tina gern hörte, packte sie in ihre Tasche,
als sie die Wohnung mit der großen Mülltüte in der Hand verließ. An der Haustür
unten wartete der Kater Spike auf eine Gelegenheit, ins Treppenhaus zu seiner
kuscheligen Box zu gelangen. Jessica ließ ihn hinein, stellte die Mülltüte ab
und kraulte ihn ein wenig. Er maunzte und lief die Treppe zu seiner Box hinauf.
Schnell rollte er sich zusammen und schloss die Augen.
Die
frische Luft tat trotz der Nässe und Kälte gut. Erstaunlich, morgens war sie
davon überzeugt gewesen, heute keinen Schritt vor die Tür zu setzen. Das
Fahrrad blieb im Keller. Mit Schwung und einem scheppernden Klirren landete die
Mülltüte im großen Plastikbehälter auf dem Hof. Jessica lächelte erleichtert,
spannte den Regenschirm auf und verließ das Grundstück in Richtung von Tinas
Wohnung. Sie freute sich auf den Abend in der festen Überzeugung, dass sie sich
nach dem anstrengenden Tag einen Freundinnen-Plausch mit Rotwein redlich
verdient hatte. Auch die Aussicht, sich gleich an einen gedeckten Tisch zu
setzen, weckte die inneren Lebensgeister. Sie war zufrieden mit sich und der
unperfekten Welt, die sie nach ihren Möglichkeiten von nun an Stück für Stück
besser gestalten wollte. Der Ballast, besonders der innere, durfte nach und
nach verschwinden. Auf unnötige Lebens-Baustellen-Frisbee-Scheiben hatte sie
absolut keine Lust mehr. Schließlich würde irgendwann der Frühling kommen.
Grover Washington Jr.: In the Name of Love
Fortsetzung folgt
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