Sonntag, 20. Juni 2021

#006.19 – Sarah – Hitze

 

#006.19 – Sarah – Hitze

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Hitze


Im Büro stöhnten alle über die Hitze, die auf einmal die Anzeige auf dem Thermometer in schwindelnde Höhen trieb. Sarahs Chef schickte kurz vor der Mittagspause eine Mail an alle Mitarbeiter, dass Eis im Eisfach der Bürokühlschränke zur Abkühlung bereit lag. Eine Kollegin hatte ihren Kunststoff-Papierkorb zweckentfremdet. Er war mit Wasser statt mit Papier gefüllt und sie nutzte ihn für ein kühlendes Fußbad. Ventilatoren summten und alle sehnten heute den Feierabend herbei.

Sarah holte sich in der Küche ein Eis aus dem Kühlschrank und beschloss, die Mittagspause draußen zu verbringen. Außerhalb des Bürogebäudes konnte sie zumindest die Maske weglassen, unter der sie extra schwitzte.

Ich gehe mal ein paar Schritte, bis später“, informierte sie ihre Kollegin, die munter mit ihren Füssen im Papierkorb planschte.

Bis gleich, mir ist es draußen zu warm“, antwortete sie.

In der Nähe des Büros war eine kleine Fußgängerzone. Die Hitze vor der Tür traf Sarah wie eine Keule, kleine Schweißperlen liefen über ihre Stirn, während sie die Maske in ihrer Tasche verstaute.

'Das war vielleicht doch nicht die beste Idee', dachte sie.

Die Fußgängerzone war wie ausgestorben, einige Läden hatten die langen Schließzeiten während des Lockdowns nicht überlebt und es gab Schilder „Zu vermieten“ an den zugeklebten Fenstern. Das passte zu Sarahs melancholischer Stimmung.

Nach Thomas' morgendlicher Absage ihres geplanten gemeinsamen Kaffeetrinkens per SMS hatte Sarah erkannt, dass es wenig sinnvoll war, eine ernsthafte und reale Kennenlernphase mit ihm zu erwägen. Er wohnte einfach zu weit weg und weder sie noch er würden ihren momentanen Wohnort verlassen wollen, da war sie sich sicher. Obwohl das, was sie verband, im wahrsten Sinne des Wortes zauberhaft war, schien es nicht alltagstauglich zu sein, eine traurige Erkenntnis.

Sarah Behrens ...“, sagte eine Männerstimme halb von der Seite, „wovon träumst du gerade? Fast hättest du mich umgerannt.“

Sarah schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Entschuldigung“, murmelte sie und erkannte, dass ein Kollege aus einer anderen Abteilung war. Im Berufsalltag hatten sie nicht so viel miteinander zu tun. Sarah fiel das erste Mal auf, dass dieser Kollege sehr groß und schlank war. Außerdem hatte er ein ansteckendes Lächeln.

'Ob es auch an der Corona-Zeit liegt, dass jeder wie in einem Tunnel unterwegs ist und nette und gutaussehende Kollegen und andere schöne Dinge einfach links liegen gelassen oder schlichtweg nicht registriert werden?' fragte sich Sarah insgeheim. Ihre vage Erinnerung war, dass dieser Kollege noch nicht so lange in ihrer Firma arbeitete.

Wollen wir ein Stück in dieser Gluthitze zusammen gehen oder ein schattiges Plätzchen suchen? Da hinten gibt es eine Bank unter dem großen Baum“, sagte er, „Vorsicht Dein Eis tropft.“

Eine schattige Bank ist verlockend. So richtig habe ich dieses Eis gerade nicht im Griff.“

Sarah ließ die Überlegungen zu ihrem Brieffreund Thomas für einen Moment hinter sich und folgte ihrem Kollegen. Wie war noch mal sein Name? Sie kramte in ihrem Gedächtnis: Michael oder Matthias? Wie peinlich, im Gegensatz zu ihr wusste er genau, wie sie hieß.

'Nachher gucke ich in der Telefonliste', dachte sie.

Es ist mir schon öfter aufgefallen, dass du anscheinend mit deinen Gedanken ganz woanders bist, wenn ich dich im Treppenhaus oder im Kopierraum getroffen habe“, sagte er und zwinkerte ihr dabei freundlich zu, „allerdings trägst du dann kein Eis mit Dir herum.“

Sarah hatte das Gefühl, dass die Temperatur bei dieser Aussage noch zunahm und ihre Wangen erreichte. Sie überlegte, wie oft er sie wohl schon beobachtet hatte, ohne dass sie es bemerkt hatte.

Keine Angst, ich bin kein Stalker“, fügte er noch hinzu, als könnte er Gedanken lesen.

Sarah und er machten es sich auf der Bank gemütlich und Sarah schaffte es, den Rest des Eises einigermaßen elegant zu essen. Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und versuchte mit dem Gedanken 'jetzt ist sowieso alles egal' den kleinen Fleck auf ihrem Rock wegzuwischen, aber das herunter getropfte Erdbeereis haftete hartnäckig auf dem Stoff und verteilte sich sogar noch. Aus dem Augenwinkel meinte sie ein kleines amüsiertes Lächeln in seinen Augen zu erkennen.

Souverän zu sein, ging anders, aber es war ja schließlich nur ein Kollege, allerdings ein attraktiver Kollege. Wieso war es ihr bisher nie aufgefallen?

Sie plauderten ein wenig über ihre Firma und darüber, dass das traditionelle Sommerfest letztes Jahr wegen der Pandemie ausgefallen war.

Ich glaube, der Chef überlegt, ob es dieses Jahr wieder ein Sommerfest geben wird, vielleicht am Ende der Sommerferien“, sagte Sarah, „irgendwie sehnen sich alle nach so etwas wie Normalität.“

Das stimmt. Würdest du dann mit mir tanzen?“ fragte der Kollege, dessen Name Sarah immer noch nicht eingefallen war.

Na klar, gerne. Ich denke, wir sollten uns langsam auf den Weg ins Büro machen. Tatsächlich möchte ich noch ein paar Vorgänge heute vom Tisch bekommen“, antwortete Sarah. 'Und sofort in der Telefonliste seinen Namen recherchieren', war ihr nachfolgender Gedanke.

Im Flur des Bürogebäudes verabschiedeten sie sich.

Ich wünsche Dir noch einen produktiven Arbeitstag trotz der Affenhitze“, sagte er, „wenn du magst, können wir ja demnächst noch einmal eine Mittagspause zusammen verbringen.“

Ja, gerne. Bis bald und ich wünsche dir nachher einen schattigen Feierabend.“

Er schickte ihr ein paar Minuten später eine Mail mit dem Text:

Das nächste Eis geht auf mich. :-) Viele Grüße aus meinem Büro (aktuelle Temperatur: 35°C) von Matthias

Zum Glück wusste sie jetzt endlich seinen Namen, ohne umständlich die Telefonliste wälzen zu müssen, und antwortete prompt:

Hallo Matthias,

danke für die Einladung, darauf komme ich gerne zurück. Die Temperatur in meinem Büro ist nicht genau zu beziffern (kein Thermometer), aber jetzt schmilzt und tropft das Eis meiner Kollegin gegenüber ….

Viele Grüße von Sarah


Nach einem kurzem Abstecher in den Supermarkt, inklusive Einkauf von Leckerlis für Spike, den Kater, war sie in ihrer kühlen Wohnung angekommen und konnte endlich in Ruhe ihre Gedanken ordnen.

Heute morgen war sie so enttäuscht gewesen, dass sie Thomas erst einmal nicht mehr sehen konnte, weil er ungeplant abreisen musste. Es hatte sich angefühlt, als sei sie unsanft aus einem wunderschönen Traum gerissen worden. Und dann war mittags der Kollege aufgetaucht und hatte mit seiner netten Art für Ablenkung gesorgt.

'Wie viele Menschen fallen mir im Alltag gar nicht auf. Beim genaueren Hinsehen stellt sich heraus, dass es sogar im näheren Umfeld neue Bekanntschaften geben kann. Es lohnt sich, die Augen aufzumachen, und das Leben geht weiter seinen Gang', dachte sie, während sie eine Sommermusik-Playlist startete und mit Musik im Ohr auf ihrem Balkon die tief stehende Sonne am Horizont beobachtete.

Spike, der Kater, hatte es sich neben einem Busch im Schatten bequem gemacht, nachdem er von Sarah vorhin einige Leckerlis bekommen hatte. Wahrscheinlich freute er sich genau wie seine menschlichen Mitbewohner, dass es wenig abgekühlt war.

Till Brönner: Summer Breeze

Fortsetzung folgt


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