#003.4 Hannah – Corona und Weihnachten
(Die Welt eines hochsensiblen Kindes)
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Heute kommt wieder Hannah
zu Wort. Sie ist mittlerweile
12 Jahre alt und wohnt im
Erdgeschoss.
Corona und Weihnachten
Hallo, hier ist wieder Hannah, das Kind mit den vielfältigen Wahrnehmungen, die manche Menschen seltsam und irritierend finden. Ich hatte ja schon berichtet, dass ich mit meinen zwei besten Freundinnen und Spike, dem Kater, sehr gut klar komme. Mittlerweile macht es mir nicht mehr so viel aus, dass viele andere mir oft ablehnend gegenüber stehen. Die frechen Jungs im Schulbus, die mich vor einigen Monaten ständig als „Heulsuse“ beschimpft haben, haben damit aufgehört und sich andere Opfer gesucht.
Das alles habe ich meiner Klassenlehrerin Frau Müller zu verdanken. Sie bestärkt mich darin, so zu sein, wie ich bin und fördert meine Talente. Wir sind auf einer Wellenlänge und deshalb verstehen wir uns so gut.
Momentan sind besondere Corona-Zeiten und Weihnachten steht vor der Tür. Vieles, was die meisten Menschen mit Weihnachten verbinden, fällt dieses Jahr aus. Ich finde es auch seltsam, dass es keinen Weihnachtsmarkt gibt. Mir war es in den letzten Jahren zwar oft zu überfüllt und zu laut dort, aber trotzdem mochte ich die weihnachtlichen Gerüche, die bunt geschmückten Tannenbäume und, als ich noch jünger war, den verkleideten Weihnachtsmann, der Süßigkeiten an die Kinder verteilt hat.
Meine Mutter beschwerte sich neulich darüber, dass sie sich dieses Jahr nicht mit ihren Freundinnen am Glühwein-Stand treffen kann, so wie es eben in ihrem Freundeskreis Tradition sei. Viele haben ihre Gewohnheiten während der Pandemie ändern müssen und das hat diese Welt nicht freundlicher gemacht. Weil ich immer viele Stimmungen von meinen Mitmenschen aufnehme, spüre ich bei einigen schon eine Art Verzweiflung, weil nichts mehr so ist wie gewohnt. Das macht mich dann selber traurig.
Trotzdem meine Eltern und mein Bruder oft jammern, gibt es manchmal schöne, vertraute Familienmomente. Gestern haben meine Mutter und ich zusammen Plätzchen gebacken und sogar Leon hat eine halbe Stunde mitgemacht. Dann war sein Computerspiel wieder wichtiger. Als Leon wieder in seinem Zimmer verschwunden war, haben meine Mutter und ich uns richtig unterhalten, während wir Teig ausrollten und die Plätzchen verzierten. Sonst ist eher so, dass meine Mutter Monologe hält und nicht wirklich daran interessiert ist, die Sichtweise ihres Gegenübers zu erfahren.
Ich wünsche mir zu Weihnachten ein Keyboard und Unterricht nächstes Jahr. Natürlich finde ich ein echtes Klavier aus Holz viel schöner, aber das würde weder in unsere Wohnung noch zu dem Weihnachtsgeschenke-Budget meiner Eltern passen. Dass ich mir ein Keyboard ausgesucht habe, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich mein Wunsch, richtig Noten lesen zu lernen und selbst Lieder zu spielen, erfüllen könnte. Musik ist neben meiner Leidenschaft für Geschichten ein Ausgleich für alles Anstrengende, was in der Schule und außerhalb meines Kinderzimmers passiert.
Wenn ich abends im Bett liege, träume ich davon, dass ich, wenn ich erwachsen bin, Autorin oder Musikerin werde und mich den ganzen Tag mit Kunst, Phantasie, Ideen und deren Umsetzung beschäftigen kann. Ich wünsche mir dann eine eigene Familie und Freunde, die so ähnlich denken. Natürlich ist mir klar, dass ich trotzdem einkaufen, kochen und meine Rechnungen bezahlen muss. Mittlerweile bin ich ein wenig skeptisch geworden, ob die Art, wie meine Eltern leben, das Einzige und Richtige ist. Frau Müller hat mich ermutigt, meine Träume zu verfolgen, auch wenn viele andere nichts damit anfangen können. Sie sagte, es sei kein Gradmesser, was die meisten tun, es sei wichtig, seinem eigenen Herzen zu folgen.
Letztes Wochenende habe ich mich darüber mit meiner Nachbarin Marie unterhalten. Wir haben uns draußen getroffen. Sie war auf dem Weg zum Supermarkt und ich wollte zu meiner Freundin Anna.
„Hallo Marie.“
„Hallo Hannah, wie geht es Dir?“
„Danke, mir geht es gut. Darf ich Dich etwas fragen?“
„Na klar, wenn ich es beantworten kann, gerne.“
„Bist Du mit Deinem Beruf und der Art, wie Du lebst, zufrieden?“
„Lass uns ein Stück zusammen gehen, wenn Du magst“, antwortete Marie, „diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Ja, ich mag meinen Beruf, aber wäre ich, als ich jünger war, mutiger gewesen, hätte ich eventuell auch etwas anderes gemacht. Im Laufe der Jahre habe ich mich durch Weiterbildungen innerhalb meines Berufes in die Richtung entwickelt, die mir ganz gut entspricht, also bin ich meistens zufrieden mit dem, was ich tue. Es entwickelte sich im Laufe der Zeit.“
„Meine Eltern sagen immer, ich sollte, wenn ich mit der Schule fertig bin, am besten eine Ausbildung in einer Verwaltung machen, weil das ein sicherer Job sei. Ehrlich gesagt, finde ich diese Idee ziemlich langweilig und es schnürt sich bei mir innerlich alles zusammen, wenn ich versuche, mir das vorzustellen.“
„Dann solltest Du unbedingt etwas anderes tun. Es ist immer gut, Sachen auszuprobieren, zum Beispiel durch Praktika. Bei uns in der Firma haben wir öfter Praktikanten. Wenn Du etwas älter bist, hast Du ja auch die Möglichkeit, Hannah. Die Tochter von meiner Cousine hat zum Beispiel nach zwei Semestern das Studienfach gewechselt, weil sie gemerkt hat, dass es nicht zu ihr passte.“
„Und sonst? Ich habe Dich öfter mit diesem Mann zusammen gesehen. Bist Du gerade glücklich?“
Marie schmunzelte wegen dieser direkten Frage. „Ja, ich bin glücklich. Manchmal zweifele ich, ob alles, was gerade in meinem Leben ist oder passiert, richtig ist, aber das geht, glaube ich, allen so. Christian und ich streiten uns manchmal und wir vertragen uns aber auch schnell wieder.“
„Ich war noch nie verliebt, aber ich bin ja erst 12 Jahre alt. Wahrscheinlich wird sich sowieso kein Junge für mich interessieren, weil ich anders bin als die anderen Mädchen.“
„Das glaube ich nicht. Dir wird bestimmt irgendwann ein Junge über den Weg laufen, der Dich genau deswegen mag, weil Du bist, wie Du bist. Wenn alle Menschen gleich oder ähnlich wären, wäre das Leben ganz schön langweilig, oder?“
„Danke, dass Du mir Mut machst. Ich mag Deinen Christian und Spike mag ihn auch. Ich muss hier abbiegen und besuche gleich meine Freundin. Sie war übrigens schon einmal verliebt, aber nur kurz.“
Marie lächelte Hannah freundlich an: „Alles klar, Hannah. Ich wünsche Dir einen schönen Nachmittag mit Deiner Freundin. Als ich so alt war wie Du, fand ich es immer spannend, mir mit meiner besten Freundin auszudenken, welcher tolle Junge uns wohl über den Weg laufen würde. Ich gehe jetzt einkaufen. Heute Abend besucht mich Christian und wir kochen zusammen. Ich finde, wir sollten trotz der schwierigen Zeiten, immer die schönen kleinen Momente genießen, zum Beispiel beim Kochen oder bei einem Treffen mit der besten Freundin, was meinst Du, Hannah?“
„Ja, das stimmt. Ich wünsche Euch, dass ihr das mit dem Kochen heute Abend gut hinkriegt und nichts anbrennt. Tschüss, Marie,“
„Tschüss, Hannah, bis bald. Und erzähle mir doch demnächst einmal eine von Deinen Geschichten.“
Marie ist wirklich nett. Sie hat wohl ihren Traummann gefunden, auch wenn sie sich manchmal streiten.
Ob ich Marie wohl eine von meinen Geschichten zeigen kann? Wird sie mich auslachen, wenn sie von den Weihnachtsfeen, Zauberern und tanzenden Lichtern liest, die ich mir ausdenke? Andererseits lesen manche Erwachsene die Harry Potter-Bücher. Ab dem 18. Lebensjahr wird die Phantasie wohl nicht plötzlich absterben, obwohl bei meinen Eltern anscheinend genau das passiert ist.
Damit habe ich noch einen Weihnachtswunsch gefunden, der gar kein Geld kostet. Ich schicke diesen Wunsch, noch mehr phantasievolle Menschen kennenzulernen, die mich wegen meiner Geschichten und Ideen nicht auslachen, die selber kreativ sind und die Dinge tun, die sie lieben, einfach so in Gedanken irgendwo hin. Ich bin gespannt, wo dieser Wunsch ankommen und ob er sich erfüllen wird.
Coldplay: Christmas Lights
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