#007.10 – Jessica - Klamottenberg
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Heute sortiert Jessica
ihren Kleiderschrank, schließlich hat sie
wahrscheinlich bald
ein erstes Date mit ihrem Helden vom Möbelhaus-Parkplatz.
Sie
wohnt im 2. Stock rechts.
Klamottenberg
In Jessicas Wohnung war es himmlisch ruhig an diesem Sonntagmorgen. Alle Nachbarn schliefen anscheinend noch. Jessica hatte sich einen Becher Kaffee mit ins Bett genommen und war im Flur an ihrem neuen Schrank vorbei gelaufen. Beim Einkauf des Schranks gestern hatte sie Florian kennengelernt, der ihr beim Einladen des großen Kartons geholfen hatte. Er hatte sie zu einem Kaffee eingeladen und dabei wurden Telefonnummern ausgetauscht. Heute abend wollte sich Florian bei Jessica melden, um ein Wiedersehen zu planen.
Jessica stellte bei sich selbst fest, dass sie aufgeregt war. Die Gedanken liefen in ihrem Kopf hin und her. Gerade hatte sie sich ein wenig in ihrem neuen Singledasein eingerichtet und schon kam ein, zugegebenermaßen, netter Mann um die Ecke. Aber war das alles nicht viel zu früh? 'Wahrscheinlich sollte ich nicht so viel darüber grübeln, sondern lieber schauen, was passiert. Spike, unser Kater, würde genauso handeln. Spikes Lebensphilosophie ist für alle Lebenslagen passend ', dachte sie, während sie einen großen Schluck Kaffee trank, 'auf jeden Fall schaue ich nachher in meinem Kleiderschrank, was er für ein erstes Date hergibt.'
Gesagt, getan, nach dem Frühstück stand sie vor ihrem übervollen Schrank, der außerdem sehr unordentlich war. Die Kleidungsstapel waren teilweise halb umgekippt, weil sie ein Teil in Eile von unten herausgezogen hatte. Er war außerdem wenig sortiert und strukturiert. 'Ein großer Schrank voll gestopft mit gar nichts anzuziehen', war ihr Gedanke dazu.
Sie erinnerte sich an Aufräum-Tipps aus dem Internet:
Alles aus dem Schrank räumen,
die Sachen, die sie liebte, als erstes heraussuchen und dabei dem guten Gefühl nachspüren, weil alle anderen Kleidungsstücke sich daran messen mussten.
Dann noch die Unterscheidung treffen, wenn ein Teil zwar kein Lieblingsstück, aber praktisch war, z. B. ein hautfarbenes Top zum Unterziehen.
Schrank gründlich putzen
Kleidung, die bleiben sollte, ordentlich wieder einräumen
Aussortierte Kleidung schnell aus der Wohnung bringen, damit diese nicht doch wieder den Weg zurück in den Schrank finden konnte …
Genau nach diesem Schema ging Jessica vor. Der Klamottenberg auf ihrem Bett war mindestens so hoch wie die Zugspitze. Jessicas Elan sank bei dem Anblick gegen null, aber nun hatte sie begonnen und keine andere Chance, als weiter zu räumen. Ansonsten musste sie heute Nacht auf ihrem Sofa schlafen. Ja, die Lieblingsteile, im Endeffekt waren es nicht viele. Nach der Trennung hatte sich Jessicas Sicht auf die Dinge, auch auf ihre Kleidung, verändert. Sie probierte ein Kleid an, was sie mit Michael zusammen gekauft hatte. An sich war es schön, fühlte sich gut an, trotzdem wusste Jessica in diesem Moment, dass dieses Kleid ausgedient hatte. Es gehörte in eine andere Zeit, zu einer anderen Jessica.
Die ganze Aktion war ziemlich anstrengend, es kamen so viele Erinnerungen hoch. Der Stapel der aussortierten Kleidung wuchs unaufhörlich. 'Wenn das so weiter geht, habe ich für mein Treffen mit Florian gar nichts zum Anziehen', dachte sie alarmiert.
Ab einem gewissen Punkt gegen frühen Nachmittag war ihre Entscheidungsfreudigkeit stark geschrumpft. Jessica war hungrig und fühlte sich innerlich wie leer gefegt. Gut, dass noch eine Tiefkühlpizza im Gefrierfach lag. Während der Ofen heizte, saß sie in der Küche und dachte an die Klamottenberge in ihrem Schlafzimmer. Sie hatte kaputte Strumpfhosen gefunden, einige uralte T-Shirts, die für irgendwelche Renovierungsarbeiten aufgehoben worden waren, Röcke, die keine Luft zum Atmen ließen, weil sie aktuell nicht Jessicas Kleidergröße entsprachen, aber auch zeltartige Gewänder (seltsamer oversize-Style), die garantiert für alles Schöne im Leben ungeeignet waren. Kleidung der Kategorie „kaputt“ und „uralt/ausgewaschen“ sollte gleich im Anschluss an die Pizza in dem Müllbehälter unten im Hof entsorgt werden. Damit wäre ein nicht unerheblicher Teil aus Jessicas Augen und das Bett wieder teilweise sichtbar.
Jessica seufzte. Das Entrümpeln hatte sie sich schon seit ihrem Umzug vorgenommen und einige kleine Aktionen gestartet, aber so richtig voran gekommen war sie bis jetzt nicht. Es kostete auf eine seltsame Art viel emotionale Kraft. An vielen Dingen klebten Erinnerungen und teilweise verdrängte negative Gefühle. Nach dem Umzug hatte sie selten ein Glücksgefühl beim Einräumen ihrer Sachen verspürt, so als läge über vielem ein dunkler Schatten.
Zum Beispiel dachte sie an einen Kaffeebecher in ihrem Schrank, der ein hübsches Blumenmuster hatte. Jessica hatte ihn von einer ehemaligen Nachbarin vor ein paar Jahren zum Geburtstag bekommen. Ab und zu traf sich Jessica noch mit dieser Bekannten. Nach den Treffen fühlte sie sich fast immer kraftlos und leer, weil diese Nachbarin gerne negative Szenarien ausschmückte, egal ob es um Weltpolitik oder Mitmenschen aus dem direkten Umfeld ging. Stets waren nach ihrer Ansicht böse Absichten im Spiel. Den Becher von dieser Bekannten benutzte Jessica fast nie. Es schien, als klebten an ihm sämtliche schwarze Löcher der Psyche dieser Frau und ein harmloses Getränk verwandelte sich darin in einen seelisch giftigen Cocktail. Noch bevor die Pizza fertig gebacken war, ging Jessica bei diesen Gedankengängen an den Küchenschrank, nahm den Becher heraus und warf ihn mit Schwung in den Mülleimer. Der Henkel brach dabei ab. Sofort stellte sich ein Gefühl von Leichtigkeit und Frische ein.
Motiviert von dem weggeworfenen Kaffeebecher und der leckeren Pizza setzte Jessica ihr Kleiderschrank-Projekt fort. Sie arbeitete sich durch große Mengen an Shirts, Blusen, Kleidern, Jeans, Blazern (einer durfte bleiben, alle anderen lösten in Jessica beklemmende, einengende Gefühle aus), Pullovern. Es schien kein Ende nehmen. Da war ein Pullover, dessen Existenz Jessica schlichtweg vergessen hatte, und noch ein T-Shirt, an dem sogar noch das Preisschild hing. Das Schild hatte einen roten „Sale“-Aufkleber. Jessica dachte wieder an das schockierende Haul-Video, das sie neulich im Internet gesehen hatte. Die junge Frau in dem Video hatte Unmengen an Kleidung in einem Billig-Laden eingekauft und ihre Beute vor ihre Kamera gehalten. Dabei betonte sie oft, dass sie dieses oder jenes Stück wahrscheinlich niemals anziehen würde, trotzdem musste sie es kaufen, weil es billig war. Jessica wurde klar, dass sie keinen Deut besser konsumiert hatte als die junge Frau in dem Video, allerdings hatte sie die vielen Sachen auf ihrem Bett nicht bei einem Einkauf, sondern im Laufe vieler Jahre angesammelt.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, den Schrank richtig zu putzen. Jessica holte noch kleine Stoffsäckchen, die mit getrockneten Lavendel-Blüten gefüllt waren, aus ihrem neuen Flurschrank und verteilte sie an der Kleiderstange und in den Regalfächern. Es duftete wie ein Lavendelfeld in Südfrankreich in ihrem Schlafzimmer. Eigentlich hätten nach ihrem Empfinden je zehn Teile aus jeder Kategorie gereicht, um beim Anblick der geöffneten Kleiderschranktüren ein befreites, glückliches Gefühl zu haben, aber es waren natürlich viel mehr Kleidungsstücke einzusortieren. Noch war sie nicht soweit, dass sie wirklich so viele Sachen gehen lassen konnte.
Aus dem Wohnzimmer hörte Jessica ihr Handy klingeln. An Florian hatte sie in den letzten Stunden gar nicht mehr gedacht.
„Hallo Jessica, wie geht es Dir?“, fragte Florian, nachdem sie sich gemeldet hatte.
„Mir geht es gut. Ich entrümple gerade meine Wohnung, das ist anstrengend aber befreiend. Und Du, wie hast du diesen Sonntag verbracht?“
„Ich habe natürlich die ganze Zeit an dich gedacht“, Florian lachte, während er das sagte, „wie sieht es aus, wollen wir uns am Freitag treffen? Ich habe ab 16.00 Uhr Zeit.“
„Das passt bei mir. Treffen wir uns im Park? Da gibt es auch ein kleines Café.“
„Ja, gerne. Also, Freitag um 16.00 Uhr im Park Café. Ich freue mich. Dann wünsche ich dir noch viel Erfolg beim Aufräumen und einen schönen Abend.“
'Dieser Mann kommt wirklich schnell auf den Punkt', dachte Jessica dabei grinsend. Sie wünschte Florian auch einen schönen Abend und dann war ihr Telefonat beendet.
Jessica räumte noch alles ein, was bleiben sollte, und holte Wäschekörbe für die aussortierte Kleidung. Der Müll-Anteil war schon im Abfallbehälter draußen verschwunden.
'Das reicht für heute, Schluss, aus, Ende.'
Eine Nachricht schrieb sie noch an ihre Freundin Tina:
Hey Tina, wollen wir uns nächste Woche nach Feierabend in der Stadt treffen? Ich brauche dringend etwas Schönes und Neues zum Anziehen für einen besonderen Anlass und deine fachfrauliche Beratung ;-). Nähere Details gerne beim Getränk/Pizza nach dem Einkauf. Liebe Grüße von Jessica
Unter der Dusche vor dem Schlafengehen hatte Jessica das Gefühl, als würden mit dem ablaufenden Wasser auch komische Erinnerungen, Stimmungen und negative Energien abfließen. Eine große Erleichterung breitete sich in ihr aus und sie freute sich darauf, Florian am Freitag zu treffen. Natürlich würde sie umwerfend in einem neuen Kleid oder vielleicht einer neuen Bluse und Jeans aussehen.
'Ich werde schrittweise alle Bereiche weiter aussortieren und Dinge mit schlechter Ausstrahlung und Erinnerung entsorgen oder spenden.'
Mit diesem Gedanken schlief Jessica erschöpft, zufrieden und traumlos ein.
Fortsetzung folgt