Sonntag, 30. Mai 2021

#006.16 – Sarah – der Kuss

 

#006.16 – Sarah – der Kuss

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Der Kuss


Goldene Strahlen der Morgensonne kitzelten den Tag wach. Die Vögel hatten ihr frühes Konzert angestimmt. Der Kater Spike war bereits draußen auf Entdeckungsreise, aber die Menschen schliefen mehrheitlich noch, denn es war Wochenende.

Sarah hatte ein Auge geöffnet und das Sonnenlicht fiel durch einen kleinen Spalt ihres Schlafzimmervorhanges. Sie hatte gerade etwas geträumt und konnte nicht unterscheiden, ob sie sich noch in ihrer Traum-Szene oder in ihrem Schlafzimmer befand. Es verschwamm ineinander und es fühlte sich an, als läge eine sehr vertraute Person neben ihr, sie konnte sogar einen angenehmen männlichen Geruch wahrnehmen, der sich mit dem Duft der frisch bezogenen Bettwäsche mischte.

Thomas?“, murmelte Sarah im Halbschlaf. Dann realisierte sie, dass sie allein in ihrem Bett lag und dass es Samstagmorgen war. Die Person, der sie sich im Traum so nah gefühlt hatte, war hunderte Kilometer entfernt.

Sarah öffnete jetzt beide Augen und schaute auf das Bild, das über ihrem Bett hing. Es war eine schwarz-weiß Fotografie der Marmorskulptur „Le Baiser“ von Auguste Rodin mit besonderen Licht- und Schatteneffekten. Das Bild hatte Sarah vor vielen Jahren in einer unhandlichen Papprolle von einer ihrer Frankreich Reisen mitgebracht und später rahmen lassen. Während des besagten Urlaubs hatte sie im Museum lange vor dem beeindruckenden Kunstwerk gestanden und die Schönheit und intensive Wirkung bestaunt. An dem Liebespaar, das sich innig küsste, hatte Sarah sich noch nie satt gesehen. Sie hatte das Bild nach jedem Umzug in eine neue Wohnung immer wieder über ihrem Bett platziert.

Manchmal verschmolzen Traum und Wirklichkeit. Aber was war denn eigentlich 'wirklich'? Sarah hatte zu dieser frühen Stunde auf diese philosophische Frage noch keinerlei Antwort parat. Aber hatte das überhaupt jemand? Wieder so eine tiefsinnige Frage an einem Samstagmorgen …

Eine Antwort auf viele Fragen am Morgen war bei Sarah oft Kaffee.



Sarah ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Dann stellte sie sich in Gedanken versunken an das Küchenfenster, während die Kaffeemaschine im Hintergrund arbeitete.

Nachher wollte sie Thomas, ihren Brieffreund, von dem sie so intensiv geträumt hatte und den sie persönlich noch gar nicht kannte, anrufen. Er wollte sich in den nächsten Tagen mit ihr treffen, weil er einen Besuch bei seiner Schwester, die in der Nähe von Sarah wohnte, plante.

'Das ist doch alles verrückt', dachte Sarah, 'warum fühle ich mich mit einem Mann, von dem ich bis jetzt nur ein Foto gesehen habe, so sehr verbunden?'

Bei dem Gedanken an das bevorstehende Telefonat war Sarah auf einmal hellwach, ganz ohne Kaffee. Wie wohl seine Stimme klang? Vielleicht sollte sie doch lieber erst eine unverfängliche SMS verschicken, oder war das feige? Wahrscheinlich schon, aber gleich ein Telefonat? Das konnte als aufdringlich interpretiert werden und vielleicht hatte er in dem Moment gar keine Zeit zu telefonieren. Schließlich hatten seine beiden Bücherläden in der hessischen Studentenstadt auch am Samstag geöffnet und er musste sich um Pandemie-regelkonforme Buchlieferungen kümmern. Noch grassierte das Corona-Virus, auch wenn die Zahlen rückläufig waren.

In der Küche hing köstlicher Kaffeeduft und Sarah nahm den Becher mit dem Heißgetränk mit in ihr Schlafzimmer.

Sarah entschied sich dafür, zunächst eine SMS zu senden:

Guten Morgen Thomas, vielen Dank für die hübsche Postkarte. Wann hast Du Zeit zu telefonieren? Ich werde nachher noch einkaufen und heute Abend ab 19 00 Uhr habe ich Freundinnen-Telefonat. Melde Dich gerne, wenn es bei Dir gut passt. Ich freue mich darauf, Deine Stimme zu hören und Dich bald persönlich kennenzulernen. Liebe Wochenend-Grüße von Sarah

Während sie mit dem Finger auf den Pfeil „senden“ tippte, stieg ein Kribbeln in ihr hoch. Es war der nächste Schritt nach dem unverfänglichen Briefkontakt. Was wäre, wenn dieser Thomas total unsympathisch war, Mundgeruch oder eine quäkende Stimme hatte? Oder alles zusammen? Tief in ihrem Inneren wusste Sarah, dass es nicht so war. Trotzdem kamen diese Zweifel und Gedanken.

'Das ist einfach die nächste Ebene. Wir haben jetzt Telefonnummern ausgetauscht, werden heute wahrscheinlich miteinander sprechen und uns in einem Café verabreden, mehr ist in der sogenannten „Wirklichkeit“ nicht geschehen. Also, bin ich gespannt, was passieren wird', dachte Sarah und Freude löste die wirren Zweifel ab.

In der Nachbarwohnung war ein polterndes Geräusch zu hören, anscheinend war Sarah nicht die einzige, die schon wach war. Entspannt trank sie den Kaffee und schaute wieder auf die schwarz-weiß Fotografie, die so viele, in wahrsten Sinne des Wortes in Stein gemeißelte Emotionen ausstrahlte. Die Bandbreite war trotz des starren Materials unendlich. Das Bild strahlte in Sarahs Wahrnehmung eine große Lebendigkeit und Frische aus und erfand sich mit jedem Blick darauf neu, trotzdem es mittlerweile ihr jahrelanger Begleiter war.

Bob James: Mind Games 

Fortsetzung folgt

Montag, 24. Mai 2021

#006.15 – Sarah – Frühlingsgefühle

 

#006.15 – Sarah – Frühlingsgefühle

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Frühlingsgefühle


Ein langes Feiertags-Wochenende stand vor der Tür. Langsam stiegen die Temperaturen und ab und zu war wieder ein Lächeln im Alltag zu sehen. Die Natur hatte alles gegeben und das satte Grün wetteiferte mit den unterschiedlichsten bunten Frühlingsblumen.

Der Kater Spike war in seinem Element, beobachtete Insekten und Vögel und den rot goldenen Sonnenaufgang und -untergang. Er sog den warmen bunten Frühling förmlich in sich auf. Die menschlichen Mitbewohner waren jetzt öfter gut gelaunt und er bekam mehr Leckerlis als noch vor einigen Wochen.

Sarah freute sich auf drei freie Tage. Der Freitag war noch vollgepackt mit den verschiedensten Aufgaben, aber irgendwann war es geschafft und sie schaltete den Computer in ihrem Büro aus. Alle anderen Kolleginnen und Kollegen hatten sich schon verabschiedet.

Im Briefkasten war Post von Thomas aus Hessen. Der Umschlag fühlte sich sehr fest an, so als ob er eine Postkarte enthielt. Sarah war gespannt auf den Inhalt und wollte den Brief am liebsten sofort öffnen. Aber die alte Frau Schulze gesellte sich zu ihr und schaute neugierig auf Sarahs Post. 'Manche Menschen sind völlig hemmungslos', dachte Sarah.

Hallo Frau Schulze, wie geht es Ihnen?“

Danke, es muss ja irgendwie gehen. Ich bin mittlerweile geimpft. Die fiesen Ärzte haben mir den schlechten Impfstoff verabreicht“, schimpfte Frau Schulze.

Haben Sie den Impfstoff vertragen oder gab es Komplikationen?“, erkundigte sich Sarah.

Nein, keine Komplikationen, trotzdem war es eine Frechheit, mir einfach das schlechte Mittel zu geben.“

'Ich wäre froh, wenn ich überhaupt eines bekommen würde', waren Sarahs Gedanken dazu.

Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Tag“, verabschiedete sich Sarah und wollte schnell diesen Ort der schlechten Laune verlassen. Außerdem hatte sie nicht die geringste Lust, über dieses Thema mit ihrer Nachbarin zu diskutieren.

'Lasse ich mir davon jetzt den Tag verderben?', war die Frage, als sie in ihrer Wohnung angekommen war, 'nein, auf gar keinen Fall!'

Den Brief hatte sie unten bei den Briefkästen unauffällig in ihre Tasche geschoben, um ihn vor Frau Schulzes unverblümten Blicken zu verbergen, und holte ihn jetzt wieder heraus.

Für Sarah lächelten diese Briefe immer und sie lächelte freudig zurück. Mit einer Banane in der Hand ging sie ins Wohnzimmer und machte es sich auf der Couch gemütlich.

Der Umschlag enthielt wirklich eine Postkarte. Auf der Bildseite war ein Ausschnitt eines hübschen alten Fachwerkhauses zu sehen.


Der Text, der die ganze Rückseite der Postkarte ausfüllte, lautete:

Liebe Sarah,

danke für Deinen letzten Brief. Ich möchte nächste Woche meine Schwester in Norddeutschland besuchen und dabei hoffentlich nicht noch einmal meine Geldbörse verlieren. :-) Wer weiß, ob ich noch einmal so viel Glück hätte, dass sie gefunden und von so einer hübschen netten Frau wie Dir zurück geschickt werden würde ...

Hier ist meine Telefonnummer: 0171 xxxxx

Darf ich Dich zu einem Kaffee und Kuchen einladen? Schicke mir doch eine SMS oder rufe mich einfach an, wenn Du magst. Dann können wir uns vielleicht bald persönlich kennenlernen?

Liebe Grüße von Thomas

PS Ich weiß, dass eine Handynummer und SMS nicht so ganz zu unserem altmodischen Briefwechsel passen, aber die Neugier hat gesiegt. Ich möchte Dich so gerne treffen.

Sarahs Herz klopfte aufgeregt, nachdem sie die Zeilen gelesen hatte. Einerseits war der Zauber der Papierbriefe ein bisschen gebrochen, aber sie war auch sehr gespannt darauf, Thomas persönlich zu treffen.

'Ich werde noch eine Nacht darüber schlafen und mich morgen bei ihm melden', dachte sie und strich sanft über die Silhouette des Fachwerkhauses auf der Postkarte.

Was für eine schöne Vorstellung, mit Thomas in einen Café zu sitzen, in einer großen Kaffeetasse den Milchschaum zu verrühren und mit ihm über Shakespeare, den Sinn und Unsinn des Lebens, Musik und stimmungsvolle kitschige Kinofilme zu plaudern.

Till Brönner: Run To You



Fortsetzung folgt


Mittwoch, 12. Mai 2021

#006.14 – Sarah – unbeirrbarer Kreislauf des Lebens

#006.14 – Sarah - unbeirrbarer Kreislauf des Lebens

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Unbeirrbarer Kreislauf des Lebens


Der Frühling kämpfte mühsam voran. Es war immer noch sehr kalt und eine Winterjacke durchaus angebracht. Trotzdem zeigte sich überall ein zartes Grün und bunte Frühlingsblumen, die den kalten Nächten trotzten. Der Verlauf der Pandemie war ähnlich. Immer noch galten viele Beschränkungen, aber auch kleine hoffnungsvolle Silberstreifen am Horizont für Besserung und Freiheiten waren sichtbar, zum Beispiel durch den Fortschritt des Impfens.

Sarah war nach der Arbeit noch in der Stadt unterwegs. Sie hatte ein paar Kleinigkeiten im Drogeriemarkt und ein Geschenk besorgt. Theoretisch war es sogar möglich, jetzt nach dem Einkauf noch einen Kaffee draußen in einem Café zu trinken. Die Stadt war nicht mehr so ausgestorben wie noch vor wenigen Wochen, das fühlte sich gut an.

Gut gelaunt fuhr Sarah mit dem Rad nach Hause. Heute Abend wollte sie wieder an ihren Seelenverwandten in Hessen, Thomas, einen Brief schreiben.Die Brieffreundschaft war durch die Rücksendung einer verlorenen Geldbörse entstanden und hatte sich zu einem Austausch sehr tiefgründiger und persönlicher Dinge entwickelt. Für Sarah war dieser Briefwechsel ein echter Lichtblick in den Pandemiezeiten gewesen.

Spike, der Kater, lugte hinter einem Busch hervor, als Sarah um die Ecke bog. Er schaute, wer die Maus, die er eben noch unter der Erde gehört hatte, verscheucht hatte. Gemächlich legte er sich wieder hin und schloss die Augen, um seinen Katerträumen weiter zu folgen. Dabei wackelte er ein wenig mit seinen pelzigen Ohren.

Sarah lief die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf und freute sich auf den Feierabend. Schnell wurden die Einkäufe verstaut und der Wasserkocher für das Teewasser angestellt. Jetzt begann der entspannte Teil des Tages mit einem echten Brief und einem Becher heißen Tee.

Lieber Thomas,

danke für das Foto (der Mann auf dem Foto gefällt mir) und die stimmungsvollen Gedanken und Assoziationen in Deinem letzten Brief.

Ich habe die Elfen aus Shakespeares Sommernachtstraum im Schlosspark Deiner Stadt förmlich vor mir gesehen. Ja, ich bin sicher, dass sie dort im Rosengarten und in den alten Bäumen hoch über den Dächern der Stadt wohnen, kichern und viel Unsinn anstellen. Mit dem Genuss eines prickelnden Getränkes bzw. Zaubertranks mit feinsprudeligen winzigen Bläschen werden sie bestimmt sichtbar und lassen Träume Wirklichkeit werden. Du merkst, ich komme langsam in Frühlingslaune und freue mich auf den Moment, wenn wir beide wirklich auf einer Picknick-Decke mit dem Zaubertrank sitzen und dem Treiben dieser Wesen zusehen können. Dann ist es natürlich warm und wir erzählen uns allerlei Sinnvolles und Sinnloses, lachen und haben Spaß.

Vorhin hätte ich sogar in einem Café draußen einen Kaffee trinken können, also es geht aufwärts. Wer weiß, ob wir uns diese trübe Zeit der Pandemie in ein paar Monaten noch vorstellen können. Oder wir wissen Freiheiten, Sonne, Wärme und gute Momente mehr zu schätzen und genießen sie ausgiebiger als vorher. Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr so viele Pläne und Ideen aufzuschieben, sondern zum Beispiel sofort, wenn es passt, eine Fahrkarte in Richtung Hessen zu kaufen, um dort eine schöne Zeit zu erleben. Falls es regnen sollte, gehen wir einfach in das letzte verbliebene plüschige Kino und schauen uns einen Film mit schönen Bildern, Landschaften und wenig sichtbarer Handlung an und gehen danach in eine der Studentenkneipen, um einen Croque mit ganz viel Soße zu essen und den klebrigen Tisch damit zu bekleckern. :-)

Mir fällt aktuell eine starke Gereiztheit auf. Viele sind wohl müde und gestresst von diesem ewigen Lockdown, der Kälte des Frühlings, der sozialen Isolation und den Sorgen, die berechtigterweise viele umtreiben. Ich wünsche mir trotzdem, öfter im Alltag ein Lächeln zu sehen. Mittlerweile ist ein Einkauf im Supermarkt eine wirklich depressive Angelegenheit geworden. Höchste Zeit für Frühling und Aufbruch, finde ich. Auf meinem Balkon blüht schon alles und die Vögel singen morgens um die Wette, als gäbe es die Pandemie und die Kälte nicht. Das könnten wir uns als Vorbild nehmen. Was meinst Du?

Damit mich der Strudel der schlechten Stimmung nicht mitreißt, zähle ich mir oft die guten Dinge in meinem Leben auf: Gesundheit, mein relativ sicherer Arbeitsplatz, meine Familie, Freunde, ein Leben in Frieden mit vollem Kühlschrank und allem, was ich zum Leben brauche. Das ist eine Menge, auf jeden Fall Grund genug, um zu lächeln.

In diesem Sinne, freuen wir uns des Lebens und ich mich auf Deinen nächsten Brief

Liebe Grüße von Sarah aus dem Norden

Draußen war ein Sonnenuntergang mit schimmernden roten Wolkenformationen zu sehen. Sarah trat nachdenklich auf den Balkon, lauschte dem Abendkonzert der Vögel und betrachtete die sprießende Natur. Das war gerade ein Wimpernschlag im Kreislauf des Lebens.

Phil Collins - In The Air Tonight ('Panski & John Skyfield Remix) [Deep House]

Fortsetzung folgt