#006.16 – Sarah – der Kuss
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Heute kommt Sarah wieder
zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.
Der Kuss
Goldene Strahlen der Morgensonne kitzelten den Tag wach. Die Vögel hatten ihr frühes Konzert angestimmt. Der Kater Spike war bereits draußen auf Entdeckungsreise, aber die Menschen schliefen mehrheitlich noch, denn es war Wochenende.
Sarah hatte ein Auge geöffnet und das Sonnenlicht fiel durch einen kleinen Spalt ihres Schlafzimmervorhanges. Sie hatte gerade etwas geträumt und konnte nicht unterscheiden, ob sie sich noch in ihrer Traum-Szene oder in ihrem Schlafzimmer befand. Es verschwamm ineinander und es fühlte sich an, als läge eine sehr vertraute Person neben ihr, sie konnte sogar einen angenehmen männlichen Geruch wahrnehmen, der sich mit dem Duft der frisch bezogenen Bettwäsche mischte.
„Thomas?“, murmelte Sarah im Halbschlaf. Dann realisierte sie, dass sie allein in ihrem Bett lag und dass es Samstagmorgen war. Die Person, der sie sich im Traum so nah gefühlt hatte, war hunderte Kilometer entfernt.
Sarah öffnete jetzt beide Augen und schaute auf das Bild, das über ihrem Bett hing. Es war eine schwarz-weiß Fotografie der Marmorskulptur „Le Baiser“ von Auguste Rodin mit besonderen Licht- und Schatteneffekten. Das Bild hatte Sarah vor vielen Jahren in einer unhandlichen Papprolle von einer ihrer Frankreich Reisen mitgebracht und später rahmen lassen. Während des besagten Urlaubs hatte sie im Museum lange vor dem beeindruckenden Kunstwerk gestanden und die Schönheit und intensive Wirkung bestaunt. An dem Liebespaar, das sich innig küsste, hatte Sarah sich noch nie satt gesehen. Sie hatte das Bild nach jedem Umzug in eine neue Wohnung immer wieder über ihrem Bett platziert.
Manchmal verschmolzen Traum und Wirklichkeit. Aber was war denn eigentlich 'wirklich'? Sarah hatte zu dieser frühen Stunde auf diese philosophische Frage noch keinerlei Antwort parat. Aber hatte das überhaupt jemand? Wieder so eine tiefsinnige Frage an einem Samstagmorgen …
Eine Antwort auf viele Fragen am Morgen war bei Sarah oft Kaffee.
Sarah ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Dann stellte sie sich in Gedanken versunken an das Küchenfenster, während die Kaffeemaschine im Hintergrund arbeitete.
Nachher wollte sie Thomas, ihren Brieffreund, von dem sie so intensiv geträumt hatte und den sie persönlich noch gar nicht kannte, anrufen. Er wollte sich in den nächsten Tagen mit ihr treffen, weil er einen Besuch bei seiner Schwester, die in der Nähe von Sarah wohnte, plante.
'Das ist doch alles verrückt', dachte Sarah, 'warum fühle ich mich mit einem Mann, von dem ich bis jetzt nur ein Foto gesehen habe, so sehr verbunden?'
Bei dem Gedanken an das bevorstehende Telefonat war Sarah auf einmal hellwach, ganz ohne Kaffee. Wie wohl seine Stimme klang? Vielleicht sollte sie doch lieber erst eine unverfängliche SMS verschicken, oder war das feige? Wahrscheinlich schon, aber gleich ein Telefonat? Das konnte als aufdringlich interpretiert werden und vielleicht hatte er in dem Moment gar keine Zeit zu telefonieren. Schließlich hatten seine beiden Bücherläden in der hessischen Studentenstadt auch am Samstag geöffnet und er musste sich um Pandemie-regelkonforme Buchlieferungen kümmern. Noch grassierte das Corona-Virus, auch wenn die Zahlen rückläufig waren.
In der Küche hing köstlicher Kaffeeduft und Sarah nahm den Becher mit dem Heißgetränk mit in ihr Schlafzimmer.
Sarah entschied sich dafür, zunächst eine SMS zu senden:
Guten Morgen Thomas, vielen Dank für die hübsche Postkarte. Wann hast Du Zeit zu telefonieren? Ich werde nachher noch einkaufen und heute Abend ab 19 00 Uhr habe ich Freundinnen-Telefonat. Melde Dich gerne, wenn es bei Dir gut passt. Ich freue mich darauf, Deine Stimme zu hören und Dich bald persönlich kennenzulernen. Liebe Wochenend-Grüße von Sarah
Während sie mit dem Finger auf den Pfeil „senden“ tippte, stieg ein Kribbeln in ihr hoch. Es war der nächste Schritt nach dem unverfänglichen Briefkontakt. Was wäre, wenn dieser Thomas total unsympathisch war, Mundgeruch oder eine quäkende Stimme hatte? Oder alles zusammen? Tief in ihrem Inneren wusste Sarah, dass es nicht so war. Trotzdem kamen diese Zweifel und Gedanken.
'Das ist einfach die nächste Ebene. Wir haben jetzt Telefonnummern ausgetauscht, werden heute wahrscheinlich miteinander sprechen und uns in einem Café verabreden, mehr ist in der sogenannten „Wirklichkeit“ nicht geschehen. Also, bin ich gespannt, was passieren wird', dachte Sarah und Freude löste die wirren Zweifel ab.
In der Nachbarwohnung war ein polterndes Geräusch zu hören, anscheinend war Sarah nicht die einzige, die schon wach war. Entspannt trank sie den Kaffee und schaute wieder auf die schwarz-weiß Fotografie, die so viele, in wahrsten Sinne des Wortes in Stein gemeißelte Emotionen ausstrahlte. Die Bandbreite war trotz des starren Materials unendlich. Das Bild strahlte in Sarahs Wahrnehmung eine große Lebendigkeit und Frische aus und erfand sich mit jedem Blick darauf neu, trotzdem es mittlerweile ihr jahrelanger Begleiter war.
Fortsetzung folgt