Sonntag, 12. Juni 2022

#007.6 – Jessica – Kram und Zeug

 

#007.6 – Jessica – Kram und Zeug

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Jessica entdeckt seltsame Dinge im Internet und bei sich selbst.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Kram und Zeug


 

Es grollte in der Ferne. Dunkle Wolken waren am Himmel aufgezogen. Jessica beeilte sich mit ihren zwei Einkaufstaschen, schnell ihre Wohnung zu erreichen. Neben der Eingangstür unter dem Vordach hatte es sich Spike, der Kater, bequem gemacht und blinzelte kurz in ihre Richtung, als sie ihren Schlüssel aus der Handtasche kramte.Bei geöffneter Tür schoss Spike auf einmal wie ein geölter Blitz an ihr vorbei und lief in Richtung seiner Box im Treppenhaus.

'Schlaues Tier', dachte Jessica, 'er hat genau den richtigen Zeitpunkt abgepasst.'

Mittlerweile hatte sie fast immer Katzen-Leckerlis in ihrer Handtasche und hielt noch einmal kurz bei seiner Box an. Wieder schaute Spike auf, knabberte an dem Leckerli und rollte sich zusammen, um sich seinen Katerträumen hinzugeben.

Jessica betrat ihre Wohnung. Es herrschte ein leichtes Chaos im Flur: Einige Schuhe lagen kreuz und quer im und vor dem Schuhregal. Gestern hatte sie zu ihrem Bürokleid verschiedene Modelle anprobiert und konnte sich nicht entscheiden, welche sie anziehen wollte. Auch eine Kiste mit leeren Wasserflaschen und einige Taschen säumten den Weg zur Küche.

'Irgendwie habe ich zu viel Zeug', stellte Jessica zum wiederholten Male fest.

Heute war Samstag und sogar der Einkauf schon erledigt. Das heißt, sie konnte sich bis zu ihrer Verabredung heute Abend, dem Aufräumen widmen.

Nachdem alle Lebensmittel ihren Weg in den Kühlschrank oder das Vorratsregal gefunden hatten, schaute Jessica auf die restlichen Artikel aus der Drogerie. Darunter waren lebenswichtige Dinge wie eine Gesichtsmaske mit Gurken-Extrakt, eine spezielle Fußcreme für seidenweiche Füße und nicht zu vergessen die Haarkur, die bei Anwendung „Haare wie neu, ohne Spliss und trockene Spitzen“ versprach. In den Badezimmerschrank passten diese Wundermittel nicht mehr, sie blieben zunächst auf dem Küchentisch liegen. Jessica seufzte und stellte die Kaffeemaschine an.

Draußen brach das Unwetter los. Donner und Blitze wechselten sich ab und ein prasselnder Regen knallte an die Fenster.

Auf dem Sofa, mit dem Kaffeebecher in der Hand, beobachtete Jessica das Wettertreiben draußen. Das war gemütlich, viel zu gemütlich, um produktiv zu werden. Also, her mit dem Tablet, um in den Weiten des Internets neue Impulse für alles Mögliche zu erhalten und sich ein wenig treiben zu lassen.

Jessica schaute ab und zu gerne Videos von Mode-Bloggerinnen oder zu anderen Themen. Eine ihrer Lieblings-Bloggerinnen hatte ein neues Video mit Frühlings-Mode-Trends hochgeladen. Das war jetzt genau das Richtige.

Nachdem sie genau im Bilde war, welche Farben und Schnitte dieses Jahr angesagt waren, folgte ein weiteres Video, was der Algorithmus vorschlug.

Jessica schaute gleichzeitig gebannt und abgestoßen auf den Bildschirm. Eine junge Frau zeigte ihre Einkäufe aus einem Billig-Laden. Es handelte sich um einen sogenannten „Haul“. Unter normalen Umständen hätte Jessica dieses Video weggeklickt, aber aus einem seltsamen Grund, schaute sie wie ein hypnotisiertes Kaninchen weiter. Die junge Frau hatte drei große Tüten mit Kleidung, Schuhen und Accessoires eingekauft, die meisten Teile für unter 10,00 €. Hektische rote Flecken zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, während sie ihre Beute in die Kamera zeigte.

Ich weiß, dass ich diese Schuhe wahrscheinlich niemals anziehen werde, weil sie bestimmt drücken. Anprobiert habe ich sie nicht, keine Zeit bei so vielen Sachen“, erklärte die Frau vor der Kamera und kicherte dabei, „aber ich musste sie einfach kaufen. Sie haben 8,00 € gekostet und sind bunt. Bunte Schuhe brauche ich dringend diesen Frühling, weil es der neue Trend ist.“

Nach diesen Worten warf sie die Schuhe lieblos auf den unsichtbaren Haufen der vorher gezeigten Klamotten.

Jessica erwachte aus dem Trance-ähnlichen Zustand und stoppte das Video. Jetzt war nur noch der Regen zu hören.

'Das ist doch alles total krank, warum kaufen Menschen Sachen, die sie niemals tragen?*, fragte sich Jessica erschüttert.

Außerdem waren die Herstellungsbedingungen bei den Preisen für Näherinnen und Umwelt sicherlich katastrophal. Nicht zu vergessen, die langen Wege, bis das fertige, billige Kleidungsstück in dem zweifelhaften Laden hing. Solange, bis eine hektische junge Frau kam, um es zu kaufen, vor eine Kamera zu halten und dann ungenutzt in ihren wahrscheinlich riesigen Kleiderschrank zu stopfen …

Dann fiel ihr der Drogerie-Einkauf von heute morgen wieder ein. Ehrlicherweise war es das gleiche Prinzip. Es gab noch nicht einmal einen richtigen Platz in ihrer Wohnung dafür. Am Ende des Tages würden diese Sachen erst in irgendwelchen Schubladen verschwinden, dann aus dem Bewusstsein. Jessica hatte schon öfter wiedergefundene Drogerie-Artikel weggeworfen, weil sie nach einer langen Lagerung nicht mehr brauchbar gewesen waren.

'Das werde ich sofort ändern', dachte sie und schämte sich für ihr Konsumverhalten, ähnlich der seltsamen Frau in dem Internet-Video.

Auf einmal war sie motiviert, sich um ihre Unordnung zu kümmern. Sie holte ihr Notizbuch und schrieb eine kleine to-do-Liste:

Flur aufräumen
Abwasch
Küche putzen
Staub saugen
Bad sauber machen und alle Badezimmer-Artikel zusammensuchen/sortieren
Morgen: Beauty-Sonntag mit Gesichtsmaske, Haarkur und Pediküre (mit den neu gekauften Produkten)

Jessica überlegte, was sie heute bewogen hatte, im Drogerie-Markt all diese Dinge zu kaufen. Da sie gerade in eine neue Lebensphase gestartet war, hatte sie damit vielleicht ihre Unsicherheiten kompensiert? Manchmal fühlte sie sich überfordert mit der Situation, die sich ungewohnt anfühlte. Kaufen lenkte davon ab.

Der Alptraum von einem Klassentreffen neulich hatte ihr gezeigt, dass es anscheinend einige Baustellen gab, um die sie sich kümmern sollte.

Ihr Entschluss stand fest, sie würde mit der Wohnung starten und überflüssigen Ballast entsorgen, einen Bereich nach dem anderen. Außerdem nahm sich Jessica fest vor, zukünftig immer mit einem Einkaufzettel einkaufen zu gehen und Impulskäufe wie heute zu vermeiden. Sonst endete sie vielleicht wie die junge Frau, die abgehetzt durch einen Billig-Laden lief und wie ferngesteuert drückende Schuhe, kratzige Kleidung in schrillen Farben und zweifelhafter Qualität kaufte, um das alles niemals zu verwenden und nach ein paar Wochen in überquellende Altkleider-Container zu werfen? Was für eine grauenhafte Vorstellung

Jessica wollte für die Umwelt und sich selbst ihr neues Lebenskonzept kreieren, erster Schritt heute: Das Badezimmer mit dem voll gestellten Spiegelschrank, der wenig Notwendiges aber viel Überflüssiges enthielt.

Das Gewitter hatte sich draußen ausgetobt und die Sonne schaute zwischen den Wolken hervor. Jessica öffnete die Balkontür und ließ frische Luft in ihre Wohnung, die herrlich nach Frühlingsregen duftete.

Pat Metheny Group: To the End of the World

- Fortsetzung folgt -

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