#007.7 – Jessica – Tagtraum
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Jessica träumt mit
offenen Augen.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.
Tagtraum
Eine abwechslungsreiche Arbeitswoche neigte sich für Jessica dem Ende entgegen. Die Tage zuvor waren mit Aufgaben, Meetings und to-do-Listen angefüllt gewesen. Jessica prüfte, bevor sie Feierabend machte, ob sie an alles gedacht hatte, was für diese Woche wichtig war. Dann kam der Moment, an dem sie den Button „Computer herunterfahren“ drückte, das Einschalten des Anrufbeantworters und die Verabschiedung von den Kolleginnen und Kollegen.
„Bis Montag, Jessica,“ sagte die Kollegin, „erhole dich gut.“
„Du auch“, lautete ihre Antwort, während sie ihre Tasche packte.
Eigentlich wollte Jessica noch einkaufen, aber das erschien ihr in diesem Moment als schlechte Idee. Die Vorstellung, einen überfüllten Supermarkt mit gestressten Kunden, Mitarbeitern und schreienden Kindern vor dem Süßigkeitenregal zu betreten, wirkte abschreckend. Ihr Kopf brummte noch von der überschäumenden Arbeitswoche.
In ihrer Wohnung angekommen, zog sich Jessica eine alte Jeans und die ausgetretenen Turnschuhe mit den Dreckspritzern an, eine Trinkflasche und etwas Obst wanderte in ihren Rucksack. Sie lief in Richtung Wald. Da es lange hell war, war sogar nach Feierabend noch ein ausgiebiger Spaziergang möglich.
'Endlich Ruhe', dachte sie, während sie das Waldstück ganz in der Nähe ihrer Wohnung betrat. Der Wind spielte mit den Blättern, die leise raschelten. Vögel sangen ein Abendlied, ein Hund bellte in der Ferne. Die Sonne fiel durch das grüne Blätterdach und verwandelte alles in ein magisches Lichtermeer. Tanzende Sonnenstrahlen zeichneten Bilder auf dem Weg. Neben dem Weg raschelte es, vielleicht eine Maus oder ein Igel auf dem Weg in ein Versteck?
All das rückte die Geschehnisse im Büro in weite Ferne und Jessicas Gedanken entspannten sich. Aufgabenlisten schienen innerlich weit weg.
In dem Wald gab es einen kleinen See. Dort saß Jessica gerne auf einer Bank und schaute dem Treiben der Enten zu. Das hatte sie schon in ihrer Kindheit getan. Als sie heute das Wasser erreichte, hatte es eine grünliche Farbe und Lichtreflexe der Sonne tanzten auf der gekräuselten Oberfläche. An den glatten Flächen spiegelten sich die Bäume. Alles wirkte so friedlich. Jessica steuerte eine Bank in der Abendsonne an und holte ihr kleines Picknick aus dem Rucksack. Ganz unten befand sich sogar noch ihre Lieblings-Schokolade.
Bilder tauchten vor Jessicas innerem Auge auf. Michael war vage am Horizont zu erkennen und bewegte sich weiter von ihr weg, bis nur noch ein Punkt zu erkennen war. Dabei verspürte sie ein befreites Gefühl, eine Leichtigkeit füllte den inneren Raum aus. Sie konnte sich selbst jetzt erkennen: Im Sommerkleid, offenen Haaren, Sandalen an den Füßen. Beschwingt lief sie selbst durch ihre eigene innere Szene, im Hintergrund erklang ein Musikstück, das an Sommerabende mit Füssen im warmen Sand und Blick auf einen Sonnenuntergang erinnerte. Der Punkt am Horizont war nun ganz verschwunden, dafür tauchte eine andere männliche Person auf: Groß, lässig, entspannt und mit einem offenen Gesichtsausdruck. Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht aus, als dieser Mann Jessica erblickte. Jessica lächelte zurück und schaute noch einmal zum Horizont, dort war nichts mehr zu erkennen. Jessica und der gerade aufgetauchte Mann schauten sich in die Augen, ein Erkennen blitzte dabei auf, obwohl sie sich noch nie zuvor begegnet waren. Der warme Blick traf Jessica bis ins Innerste. Die Musik im Hintergrund wurde leiser und die Farben verschwammen, bis die ganze Szene an ein impressionistisches Gemälde erinnerte.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, diese Stimme schien aus einer anderen Galaxie zu kommen. Eine freundlich aussehende ältere Dame stand vor der Bank.
„Natürlich“, murmelte Jessica, noch etwas verwirrt, „ich glaube, ich habe eben geträumt.“
„Das sah wirklich so aus“, sagte die Dame und nahm auf der Bank Platz, „wahrscheinlich war ein angenehmer Traum, oder?“
„Ja, in der Tat.“
„Ich träume auch oft vor mich hin, ab und zu mit offenen Augen. Dabei kann man interessante Dinge sehen und erleben“, ein Augenzwinkern und ein schelmischer Gesichtsausdruck begleiteten diese Worte. Jessicas Banknachbarin wirkte in diesem Moment alterslos, sie hätte 17 oder 70 Jahre alt sein können.
Jessica fühlte sich wie in eine andere Welt katapultiert, fernab von ihrem Büroalltag, einem Einkauf im Supermarkt, selbst von einem Freundinnen-Treffen beim Lieblings-Italiener.
'Wo bin ich gerade?', fragte sie sich.
„Ich habe eben in meinen Traum einen Mann getroffen, den ich noch nie gesehen habe. Trotzdem kenne ich ihn länger, als ich auf dieser Welt bin“, während sie das sagte, wurde ihr bewusst, wie absurd es klang. Noch merkwürdiger war, dass sie es einer fremden Person erzählte.
Die alte Dame, die jetzt wieder wie eine alte Dame aussah, nickte wissend: „Ich weiß, was Sie meinen. Manchmal öffnen sich einfach Türen, die im normalen Leben verschlossen sind. Deshalb ist es wichtig, öfter in die Natur zu gehen, damit Unsichtbares ans Licht oder ins Bewusstsein kommt.“
Nach diesen rätselhaften Worten stand sie auf und wandte sich nochmals direkt an Jessica: “Sie sind auf dem richtigen Weg, glauben Sie mir. Alles, was passieren soll, wird passieren. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“
Dann entfernte sie sich und ehe Jessica reagieren konnte, war die Besucherin an der Wegbiegung verschwunden.
Verwirrt trank sie einen Schluck Wasser aus der mitgebrachten Trinkflasche und steckte sich ein Stück Schokolade in den Mund. Der Kakao entfaltete eine Geschmacksexplosion in ihrem Mund. Es war ihr vorher nicht aufgefallen, wie intensiv diese Sorte Schokolade schmeckte. Der Wind zeichnete Wellen auf dem kleinen See, auf denen sich Sonnenstrahlen brachen. Enten schnatterten und eine Familie mit Hund näherte sich der Bank. Jessica hatte das Gefühl, wieder in die sogenannte Realität zu gleiten.
'Aber was ist wirklich real? Ich denke, mein Traum und das Gespräch mit der alten Damen ebenso.'
Sie packte alles wieder in den Rücksack, grüßte die vorbeigehende Familie mit Hund und ging wieder durch den Wald nach Hause.
Nach einer intensiven Begrüßung von Spike, dem Kater, vor dem Eingang des Fahrradkellers, ging Jessica in ihre Wohnung, um in dieses Wochenende zu starten. Dabei überlegte sie, dass sie der Ausdruck in Spikes Augen an den der alten Dame auf der Bank erinnerte.
- Fortsetzung folgt -