Samstag, 18. Juni 2022

#007.7 – Jessica – Tagtraum

 

#007.7 – Jessica – Tagtraum

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Jessica träumt mit offenen Augen.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Tagtraum


 
Eine abwechslungsreiche Arbeitswoche neigte sich für Jessica dem Ende entgegen. Die Tage zuvor waren mit Aufgaben, Meetings und to-do-Listen angefüllt gewesen. Jessica prüfte, bevor sie Feierabend machte, ob sie an alles gedacht hatte, was für diese Woche wichtig war. Dann kam der Moment, an dem sie den Button „Computer herunterfahren“ drückte, das Einschalten des Anrufbeantworters und die Verabschiedung von den Kolleginnen und Kollegen.

Bis Montag, Jessica,“ sagte die Kollegin, „erhole dich gut.“

Du auch“, lautete ihre Antwort, während sie ihre Tasche packte.

Eigentlich wollte Jessica noch einkaufen, aber das erschien ihr in diesem Moment als schlechte Idee. Die Vorstellung, einen überfüllten Supermarkt mit gestressten Kunden, Mitarbeitern und schreienden Kindern vor dem Süßigkeitenregal zu betreten, wirkte abschreckend. Ihr Kopf brummte noch von der überschäumenden Arbeitswoche.

In ihrer Wohnung angekommen, zog sich Jessica eine alte Jeans und die ausgetretenen Turnschuhe mit den Dreckspritzern an, eine Trinkflasche und etwas Obst wanderte in ihren Rucksack. Sie lief in Richtung Wald. Da es lange hell war, war sogar nach Feierabend noch ein ausgiebiger Spaziergang möglich.

'Endlich Ruhe', dachte sie, während sie das Waldstück ganz in der Nähe ihrer Wohnung betrat. Der Wind spielte mit den Blättern, die leise raschelten. Vögel sangen ein Abendlied, ein Hund bellte in der Ferne. Die Sonne fiel durch das grüne Blätterdach und verwandelte alles in ein magisches Lichtermeer. Tanzende Sonnenstrahlen zeichneten Bilder auf dem Weg. Neben dem Weg raschelte es, vielleicht eine Maus oder ein Igel auf dem Weg in ein Versteck?

All das rückte die Geschehnisse im Büro in weite Ferne und Jessicas Gedanken entspannten sich. Aufgabenlisten schienen innerlich weit weg.

In dem Wald gab es einen kleinen See. Dort saß Jessica gerne auf einer Bank und schaute dem Treiben der Enten zu. Das hatte sie schon in ihrer Kindheit getan. Als sie heute das Wasser erreichte, hatte es eine grünliche Farbe und Lichtreflexe der Sonne tanzten auf der gekräuselten Oberfläche. An den glatten Flächen spiegelten sich die Bäume. Alles wirkte so friedlich. Jessica steuerte eine Bank in der Abendsonne an und holte ihr kleines Picknick aus dem Rucksack. Ganz unten befand sich sogar noch ihre Lieblings-Schokolade.

Bilder tauchten vor Jessicas innerem Auge auf. Michael war vage am Horizont zu erkennen und bewegte sich weiter von ihr weg, bis nur noch ein Punkt zu erkennen war. Dabei verspürte sie ein befreites Gefühl, eine Leichtigkeit füllte den inneren Raum aus. Sie konnte sich selbst jetzt erkennen: Im Sommerkleid, offenen Haaren, Sandalen an den Füßen. Beschwingt lief sie selbst durch ihre eigene innere Szene, im Hintergrund erklang ein Musikstück, das an Sommerabende mit Füssen im warmen Sand und Blick auf einen Sonnenuntergang erinnerte. Der Punkt am Horizont war nun ganz verschwunden, dafür tauchte eine andere männliche Person auf: Groß, lässig, entspannt und mit einem offenen Gesichtsausdruck. Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht aus, als dieser Mann Jessica erblickte. Jessica lächelte zurück und schaute noch einmal zum Horizont, dort war nichts mehr zu erkennen. Jessica und der gerade aufgetauchte Mann schauten sich in die Augen, ein Erkennen blitzte dabei auf, obwohl sie sich noch nie zuvor begegnet waren. Der warme Blick traf Jessica bis ins Innerste. Die Musik im Hintergrund wurde leiser und die Farben verschwammen, bis die ganze Szene an ein impressionistisches Gemälde erinnerte.

Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, diese Stimme schien aus einer anderen Galaxie zu kommen. Eine freundlich aussehende ältere Dame stand vor der Bank.

Natürlich“, murmelte Jessica, noch etwas verwirrt, „ich glaube, ich habe eben geträumt.“

Das sah wirklich so aus“, sagte die Dame und nahm auf der Bank Platz, „wahrscheinlich war ein angenehmer Traum, oder?“

Ja, in der Tat.“

Ich träume auch oft vor mich hin, ab und zu mit offenen Augen. Dabei kann man interessante Dinge sehen und erleben“, ein Augenzwinkern und ein schelmischer Gesichtsausdruck begleiteten diese Worte. Jessicas Banknachbarin wirkte in diesem Moment alterslos, sie hätte 17 oder 70 Jahre alt sein können.

Jessica fühlte sich wie in eine andere Welt katapultiert, fernab von ihrem Büroalltag, einem Einkauf im Supermarkt, selbst von einem Freundinnen-Treffen beim Lieblings-Italiener.

'Wo bin ich gerade?', fragte sie sich.

Ich habe eben in meinen Traum einen Mann getroffen, den ich noch nie gesehen habe. Trotzdem kenne ich ihn länger, als ich auf dieser Welt bin“, während sie das sagte, wurde ihr bewusst, wie absurd es klang. Noch merkwürdiger war, dass sie es einer fremden Person erzählte.

Die alte Dame, die jetzt wieder wie eine alte Dame aussah, nickte wissend: „Ich weiß, was Sie meinen. Manchmal öffnen sich einfach Türen, die im normalen Leben verschlossen sind. Deshalb ist es wichtig, öfter in die Natur zu gehen, damit Unsichtbares ans Licht oder ins Bewusstsein kommt.“

Nach diesen rätselhaften Worten stand sie auf und wandte sich nochmals direkt an Jessica: “Sie sind auf dem richtigen Weg, glauben Sie mir. Alles, was passieren soll, wird passieren. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“

Dann entfernte sie sich und ehe Jessica reagieren konnte, war die Besucherin an der Wegbiegung verschwunden.

Verwirrt trank sie einen Schluck Wasser aus der mitgebrachten Trinkflasche und steckte sich ein Stück Schokolade in den Mund. Der Kakao entfaltete eine Geschmacksexplosion in ihrem Mund. Es war ihr vorher nicht aufgefallen, wie intensiv diese Sorte Schokolade schmeckte. Der Wind zeichnete Wellen auf dem kleinen See, auf denen sich Sonnenstrahlen brachen. Enten schnatterten und eine Familie mit Hund näherte sich der Bank. Jessica hatte das Gefühl, wieder in die sogenannte Realität zu gleiten.

'Aber was ist wirklich real? Ich denke, mein Traum und das Gespräch mit der alten Damen ebenso.'

Sie packte alles wieder in den Rücksack, grüßte die vorbeigehende Familie mit Hund und ging wieder durch den Wald nach Hause.

Nach einer intensiven Begrüßung von Spike, dem Kater, vor dem Eingang des Fahrradkellers, ging Jessica in ihre Wohnung, um in dieses Wochenende zu starten. Dabei überlegte sie, dass sie der Ausdruck in Spikes Augen an den der alten Dame auf der Bank erinnerte.

Paul Hardcastle: Desire

- Fortsetzung folgt -

Sonntag, 12. Juni 2022

#007.6 – Jessica – Kram und Zeug

 

#007.6 – Jessica – Kram und Zeug

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Jessica entdeckt seltsame Dinge im Internet und bei sich selbst.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Kram und Zeug


 

Es grollte in der Ferne. Dunkle Wolken waren am Himmel aufgezogen. Jessica beeilte sich mit ihren zwei Einkaufstaschen, schnell ihre Wohnung zu erreichen. Neben der Eingangstür unter dem Vordach hatte es sich Spike, der Kater, bequem gemacht und blinzelte kurz in ihre Richtung, als sie ihren Schlüssel aus der Handtasche kramte.Bei geöffneter Tür schoss Spike auf einmal wie ein geölter Blitz an ihr vorbei und lief in Richtung seiner Box im Treppenhaus.

'Schlaues Tier', dachte Jessica, 'er hat genau den richtigen Zeitpunkt abgepasst.'

Mittlerweile hatte sie fast immer Katzen-Leckerlis in ihrer Handtasche und hielt noch einmal kurz bei seiner Box an. Wieder schaute Spike auf, knabberte an dem Leckerli und rollte sich zusammen, um sich seinen Katerträumen hinzugeben.

Jessica betrat ihre Wohnung. Es herrschte ein leichtes Chaos im Flur: Einige Schuhe lagen kreuz und quer im und vor dem Schuhregal. Gestern hatte sie zu ihrem Bürokleid verschiedene Modelle anprobiert und konnte sich nicht entscheiden, welche sie anziehen wollte. Auch eine Kiste mit leeren Wasserflaschen und einige Taschen säumten den Weg zur Küche.

'Irgendwie habe ich zu viel Zeug', stellte Jessica zum wiederholten Male fest.

Heute war Samstag und sogar der Einkauf schon erledigt. Das heißt, sie konnte sich bis zu ihrer Verabredung heute Abend, dem Aufräumen widmen.

Nachdem alle Lebensmittel ihren Weg in den Kühlschrank oder das Vorratsregal gefunden hatten, schaute Jessica auf die restlichen Artikel aus der Drogerie. Darunter waren lebenswichtige Dinge wie eine Gesichtsmaske mit Gurken-Extrakt, eine spezielle Fußcreme für seidenweiche Füße und nicht zu vergessen die Haarkur, die bei Anwendung „Haare wie neu, ohne Spliss und trockene Spitzen“ versprach. In den Badezimmerschrank passten diese Wundermittel nicht mehr, sie blieben zunächst auf dem Küchentisch liegen. Jessica seufzte und stellte die Kaffeemaschine an.

Draußen brach das Unwetter los. Donner und Blitze wechselten sich ab und ein prasselnder Regen knallte an die Fenster.

Auf dem Sofa, mit dem Kaffeebecher in der Hand, beobachtete Jessica das Wettertreiben draußen. Das war gemütlich, viel zu gemütlich, um produktiv zu werden. Also, her mit dem Tablet, um in den Weiten des Internets neue Impulse für alles Mögliche zu erhalten und sich ein wenig treiben zu lassen.

Jessica schaute ab und zu gerne Videos von Mode-Bloggerinnen oder zu anderen Themen. Eine ihrer Lieblings-Bloggerinnen hatte ein neues Video mit Frühlings-Mode-Trends hochgeladen. Das war jetzt genau das Richtige.

Nachdem sie genau im Bilde war, welche Farben und Schnitte dieses Jahr angesagt waren, folgte ein weiteres Video, was der Algorithmus vorschlug.

Jessica schaute gleichzeitig gebannt und abgestoßen auf den Bildschirm. Eine junge Frau zeigte ihre Einkäufe aus einem Billig-Laden. Es handelte sich um einen sogenannten „Haul“. Unter normalen Umständen hätte Jessica dieses Video weggeklickt, aber aus einem seltsamen Grund, schaute sie wie ein hypnotisiertes Kaninchen weiter. Die junge Frau hatte drei große Tüten mit Kleidung, Schuhen und Accessoires eingekauft, die meisten Teile für unter 10,00 €. Hektische rote Flecken zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, während sie ihre Beute in die Kamera zeigte.

Ich weiß, dass ich diese Schuhe wahrscheinlich niemals anziehen werde, weil sie bestimmt drücken. Anprobiert habe ich sie nicht, keine Zeit bei so vielen Sachen“, erklärte die Frau vor der Kamera und kicherte dabei, „aber ich musste sie einfach kaufen. Sie haben 8,00 € gekostet und sind bunt. Bunte Schuhe brauche ich dringend diesen Frühling, weil es der neue Trend ist.“

Nach diesen Worten warf sie die Schuhe lieblos auf den unsichtbaren Haufen der vorher gezeigten Klamotten.

Jessica erwachte aus dem Trance-ähnlichen Zustand und stoppte das Video. Jetzt war nur noch der Regen zu hören.

'Das ist doch alles total krank, warum kaufen Menschen Sachen, die sie niemals tragen?*, fragte sich Jessica erschüttert.

Außerdem waren die Herstellungsbedingungen bei den Preisen für Näherinnen und Umwelt sicherlich katastrophal. Nicht zu vergessen, die langen Wege, bis das fertige, billige Kleidungsstück in dem zweifelhaften Laden hing. Solange, bis eine hektische junge Frau kam, um es zu kaufen, vor eine Kamera zu halten und dann ungenutzt in ihren wahrscheinlich riesigen Kleiderschrank zu stopfen …

Dann fiel ihr der Drogerie-Einkauf von heute morgen wieder ein. Ehrlicherweise war es das gleiche Prinzip. Es gab noch nicht einmal einen richtigen Platz in ihrer Wohnung dafür. Am Ende des Tages würden diese Sachen erst in irgendwelchen Schubladen verschwinden, dann aus dem Bewusstsein. Jessica hatte schon öfter wiedergefundene Drogerie-Artikel weggeworfen, weil sie nach einer langen Lagerung nicht mehr brauchbar gewesen waren.

'Das werde ich sofort ändern', dachte sie und schämte sich für ihr Konsumverhalten, ähnlich der seltsamen Frau in dem Internet-Video.

Auf einmal war sie motiviert, sich um ihre Unordnung zu kümmern. Sie holte ihr Notizbuch und schrieb eine kleine to-do-Liste:

Flur aufräumen
Abwasch
Küche putzen
Staub saugen
Bad sauber machen und alle Badezimmer-Artikel zusammensuchen/sortieren
Morgen: Beauty-Sonntag mit Gesichtsmaske, Haarkur und Pediküre (mit den neu gekauften Produkten)

Jessica überlegte, was sie heute bewogen hatte, im Drogerie-Markt all diese Dinge zu kaufen. Da sie gerade in eine neue Lebensphase gestartet war, hatte sie damit vielleicht ihre Unsicherheiten kompensiert? Manchmal fühlte sie sich überfordert mit der Situation, die sich ungewohnt anfühlte. Kaufen lenkte davon ab.

Der Alptraum von einem Klassentreffen neulich hatte ihr gezeigt, dass es anscheinend einige Baustellen gab, um die sie sich kümmern sollte.

Ihr Entschluss stand fest, sie würde mit der Wohnung starten und überflüssigen Ballast entsorgen, einen Bereich nach dem anderen. Außerdem nahm sich Jessica fest vor, zukünftig immer mit einem Einkaufzettel einkaufen zu gehen und Impulskäufe wie heute zu vermeiden. Sonst endete sie vielleicht wie die junge Frau, die abgehetzt durch einen Billig-Laden lief und wie ferngesteuert drückende Schuhe, kratzige Kleidung in schrillen Farben und zweifelhafter Qualität kaufte, um das alles niemals zu verwenden und nach ein paar Wochen in überquellende Altkleider-Container zu werfen? Was für eine grauenhafte Vorstellung

Jessica wollte für die Umwelt und sich selbst ihr neues Lebenskonzept kreieren, erster Schritt heute: Das Badezimmer mit dem voll gestellten Spiegelschrank, der wenig Notwendiges aber viel Überflüssiges enthielt.

Das Gewitter hatte sich draußen ausgetobt und die Sonne schaute zwischen den Wolken hervor. Jessica öffnete die Balkontür und ließ frische Luft in ihre Wohnung, die herrlich nach Frühlingsregen duftete.

Pat Metheny Group: To the End of the World

- Fortsetzung folgt -