#007.4 – Jessica – mal weg
Dies ist das Zuhause der
Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Jessica fährt spontan in
eine größere Stadt.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.
Mal weg
Wieder war ein wenig Zeit ins Land gegangen. Der Frühling zeigte neben der Blumenpracht auch seine wärmere Seite.
Jessica hatte sich einigermaßen in ihrer neuen Umgebung eingelebt. Die Umzugskartons befanden sich im Keller und die darin enthaltenen Dinge hatten ihren Platz in Jessicas Wohnung gefunden. Heute begann ein langes Feiertags-Wochenende. Jessica hatte sich zusätzlich zwei Tage freigenommen.
Um 6.00 Uhr morgens war alles von der aufgehenden Sonne in ein rot-goldenes Licht getaucht. Jessica trug einen kleinen Koffer die Treppen herunter. Draußen war Spike, der Kater, bereits unterwegs und beobachtete, wie Jessica aus der Eingangstür trat. Ihre Blicke trafen sich und Jessica rief ihm fröhlich entgegen: „Bis bald, Spike, ich fahre ein paar Tage weg.“
Vorgestern war Jessica aufgefallen, dass sie aktuell ähnlich lebte wie während ihrer Ausbildung: Eine kleine Wohnung, wenig Verpflichtungen und die damit einhergehende Freiheit.. Aus diesem Gefühl heraus buchte sie spontan ein Zugticket und ein Privatzimmer in der Hauptstadt. Bei dem Zimmer handelte es sich um ein leerstehendes WG-Zimmer mitten in einem Szene-Bezirk. Während sie die entsprechenden Klicks auf ihrem Mobiltelefon tätigte, stieg eine unbändige Freude und Abenteuerlust in ihr auf.
Zu dieser frühen Stunde auf dem Weg zum Bahnhof ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass es in ihrem Bett sehr gemütlich gewesen war. Vielleicht hätte sie doch lieber hier bleiben sollen?
Diese Gedanken verflogen später, als sie von der freundlichen Studentin an der zerkratzten Wohnungstür begrüßt wurde. Die Interims-Mitbewohnerin hieß Lea und zeigte ihr das Zimmer. Es gab ein selbstgebautes Bett aus Paletten, wackelige Regale, einen bunten Teppich in der Mitte des Holzfußbodens und einige moderne Kunstdrucke an den Wänden. Im Flur stand eine spärlich bekleidete männliche Schaufenster-Puppe. Alles war sauber und ein wenig zusammengewürfelt.
„Das ist übrigens George“, erklärte Lea, „er ist der einzige Mann in dieser Wohnung. Du kannst gerne die Küche benutzen. Ein Fach im Kühlschrank ist leer, da könntest du deine Sachen hinein stellen. Es gibt leider keine Spülmaschine.“
Der Kühlschrank in der Küche war über und über mit bunten Postkarten und verschiedenen Magneten übersät.
Lea zeigte ihr das Bad und übergab den Wohnungsschlüssel. Dann schloss Jessica die Tür ihres Zimmers und ließ das Ganze auf sich wirken. Ein Wasserkocher, zwei Becher mit Werbeaufdruck und verschiedene Teebeutel standen auf einem Regal. Alles war so anders als in ihren Urlauben mit Michael. Er hatte immer gern in teuren Hotels mit Tiefgarage, Spa-Bereich und Restaurant seinen Urlaub verbracht. Das hatte Jessica seinerzeit gut gefallen. Nun hatte sie das Kontrast-Programm gebucht und fühlte sich unglaublich frei, fast schwerelos. Noch nicht einmal ein Kleid befand sich in ihrem Koffer, nur Jeans und bequeme Schuhe. Ein Kleid und drückendes Schuhwerk passte absolut nicht hierher.
Jessicas erste Station war das Café gegenüber der WG-Wohnung. Holztische standen draußen, es wirkte gemütlich und so bunt wie ihre Unterkunft. Jessica bestellte sich einen Kaffee und schaute auf dem Display ihres Mobiltelefons, was die Hauptstadt in den nächsten Tagen zu bieten hatte. So viele Möglichkeiten … Kino, Theater, Ausstellungen, mehrere Flohmärkte und so weiter.
Wieder wanderten ihre Gedanken zu Michael. Mit ihm hätte sie hier nicht so entspannt Kaffee trinken können. Die anderen Gäste wären nicht nach seinem Geschmack gewesen, außerdem hatte sich die junge Kellnerin beim Servieren ungeschickt angestellt. Die Untertasse hatte einen kleinen Sprung und ein Kaffeerand zeichnete sich auf dem runden Papier unter der Tasse ab. In Jessicas Kopf formten sich die unfreundlichen Sätze, die Michael dazu gesagt hätte. Dann schob sie diese Gedanken ganz bewusst beiseite und rührte den Milchschaum in ihrer Tasse um. Dieser Mann war nicht anwesend und die Sätze in Jessicas Kopf waren nicht ausgesprochen worden.
Abends saß Jessica in einem plüschigen roten Kinosessel und schaute einen französischen Film, in dem es vorrangig um die Irrungen und Wirrungen eines Liebespaares ging, alles vor wunderschönen Kulissen und Landschaften. Im Kino waren überwiegend Frauen. Einige sahen so aus wie pensionierte Französisch-Lehrerinnen, fand Jessica. Zumindest stellte sie sich pensionierte Französisch-Lehrerinnen genau so vor.
'Es lebe das Klischee', dachte sie, während sie genüsslich das warme Popcorn knabberte.
Beschwingt, weil sich die Liebenden in dem Film am Ende so hingebungsvoll geküsst hatten, lief Jessica in Richtung U-Bahn. Ein gut aussehender junger Mann spielte am Eingang Gitarre und sang dazu. Übermütig warf sie ihm fünf Euro in seinen Hut und lächelte ihn an. Alles war so unbeschwert und leicht.
Am nächsten Tag schien die Sonne in das Studentenzimmer. Jessica hatte auf dem selbstgebauten Paletten-Bett gut geschlafen und trank einen Tee zum wach werden. Das Ganze fühlte sich mehr und mehr wie ein Abenteuer an.
'Ich gehe heute in ein paar Vintage-Läden und kaufe mir irgendein verrücktes Kleidungsstück, vielleicht einen Hut oder ein buntes Tuch?', überlegte sie, 'soll ich Michael vielleicht eine Postkarte schicken?'
Den letzten Gedanken verwarf sie, er fühlte sich nicht richtig an, der Einkauf in einem Vintage-Laden hingegen schon. Hier gab es tolle Läden voller verrückter Kleidungsstücke zum Stöbern. .
In diesem Viertel ein paar Straßen weiter gab es den ersten Laden. Jessica konnte sich an der Kleidung gar nicht satt sehen und probierte einige Kleider aus verschiedenen Mode-Jahrzehnten an.
'Ich bin eindeutig ein Kleinstadt-Kind', stellte sie fest. Am Ende wurde es tatsächlich ein Hut, außerdem kaufte sie eine hübsche silberne Kette mit einem Bernstein-Anhänger. Das Silber war ein wenig angelaufen, es hatte echte Patina.
Später saß sie auf der Mauer eines Springbrunnens, neben sich ein Pappbecher mit Kaffee und einen Crepe mit tropfendem Apfelmus auf einer Serviette, und beobachtete die Menschen, die vorüber gingen. Verschiedene Sprachen klangen an ihr Ohr, es gab unterschiedlichste Outfits und Frisuren zu bestaunen.
Nach einer Runde in einer Fotografie-Ausstellung beschloss Jessica, ein paar Kleinigkeiten zum Abendessen einzukaufen und den Abend in ihrer Unterkunft zu verbringen. Die große Stadt war spannend und voller Eindrücke. Jessica brauchte eine Pause zum Durchatmen.
In der Küche ergab sich ein nettes Gespräch mit Lea. Lea studierte Medizin und erzählte ein paar lustige Geschichten von ihrer Uni. Sie berichtete, wie die Schaufensterpuppe George den Weg in die Wohnung gefunden hatte. George war von einem Kaufhaus ausgemustert worden und ihm drohte die Entsorgung. Zu der Zeit hatte Lea in dem Kaufhaus in den Semesterferien gejobbt und ihn nach Feierabend in der U-Bahn während der Rush Hour mit nach Hause genommen. Die damalige Mitbewohnerin hatte George freudig begrüßt und er war seitdem der Star jeder WG-Party. Viele wollten ein Foto mit George oder ihn umstylen.
So einen Abend hätte sie niemals mit Michael erleben können. Statt Baguette mit Käse und einem Tomaten-Salat hätten sie wahrscheinlich in einem teuren Restaurant gegessen, leise Musik im Hintergrund, auf dem Tisch Weingläser mit erlesenem Rotwein, nur gedämpfte Stimmen und verhaltenes Lachen im Hintergrund. Michael hätte ausladend von seinen Projekten berichtet und Jessica die meiste Zeit geschwiegen und dabei am Rotweinglas genippt.
Heute Abend saß sie mit der Studentin Lea an einem wackeligen Küchentisch, zwei Wassergläser im Blümchen-Design gefüllt mit Rotwein und Baguette mit Käse auf einem großen Holzbrett mit intensiven Gebrauchsspuren vor sich. Die bunten Postkarten auf dem Kühlschrank erzählten von der weiten Welt da draußen und George beobachtete die Szene vom halbdunklen Flur aus.
Am nächsten Tag nahm sich Jessica ein großes bekanntes Museum vor. Abends aß sie eine Kleinigkeit in dem Café gegenüber. Das war ein Moment, in dem sie ein Gefühl von Einsamkeit beschlich. Die überwiegend jungen Leute um sie herum lachten und erzählten und Jessica gab es einen Stich, dass sie allein am Tisch saß. Irgendwann hatte sie einmal folgenden Spruch aufgeschnappt:
„Glaube nicht alles, was Du denkst.“
'Dann glaube ich jetzt nicht, dass ich einsam bin', beschloss sie, zahlte, überquerte die Straße, um dann später tief und traumlos auf den Holzpaletten mit Matratze zu schlafen.
Morgen würde sie wieder abreisen, zurückkehren in ihre kleine Wohnung zu Spike und den anderen Nachbarn. Das kleinliche Verhalten von Frau Schulze würde sie nerven, die Arbeit startete demnächst wieder und es waren noch ein paar Kleinigkeiten für ihre Wohnung zu besorgen. Also, zurück in das neue „normale“ Leben, aber voller Eindrücke aus einer spannenden Stadt mit unterschiedlichsten Menschen.
Das ist Berlin": Die Hymne für die Stadt
Fortsetzung folgt
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