Dienstag, 27. Juli 2021

#006.21 – Sarah – Kaleidoskop

 

#006.21 – Sarah – Kaleidoskop

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)

Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Kaleidoskop


Der Regenbogen am Himmel erstrahlte in voller Pracht, als Sarah in ihrem blauen Kleid, das sehr lange einsam im Schrank gehangen hatte, an jenem denkwürdigen Samstagmorgen das Haus verließ. Ein wenig aufgeregt war sie schon, auch wenn es „nur“ ein Kollege war, der sie zum Frühstück eingeladen hatte. Um das Gefühlswirrwarr noch zu steigern, hatte sie sich eingestanden, dass sie viel lieber mit ihrem Brieffreund Thomas einen Kaffee getrunken hätte. Aber er wohnte nun einmal mehr als 400 Kilometer entfernt und war aktuell mit seinen beiden Bücherläden in der kleinen Studentenstadt in Hessen beschäftigt.

Mittlerweile waren schon mehr Menschen auf der Straße unterwegs, als Sarah mit ihrem Rad in Richtung Innenstadt fuhr. Sie musste das blaue Kleid beim Fahren ein wenig bändigen, damit der Wind den Rock nicht unvermittelt hochwirbeln konnte. Der Vorteil an der zugegebenermaßen gewagten Rocklänge war allerdings, dass der Stoff nicht zwischen die Fahrradspeichen geraten würde. Jeans waren immer die bequemere Alternative, zumindest beim Radfahren, aber Sarah hatte sich heute für dieses Outfit entschieden. Der Gedanke, dass ihr Kollege Matthias ihr wahrscheinlich nette Komplimente machen würde und außerdem große Augen, tröstete sie ein wenig.

Sarah erreichte das Café und schloss das Fahrrad ab.

Hey, Sarah“, meldete sich eine Stimme von schräg rechts, „toll, dass du so spontan bist.“

Sarah schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Hallo Matthias, also die Uhrzeit deiner SMS am Samstagmorgen war schon abenteuerlich.“

'Abenteuerlich' kann ich am besten“, war seine Antwort, „und Du bist jetzt hier.“ Dabei zwinkerte er mit den Augen.

Irgendwie fiel ihr in diesem Moment keine spontane passende Antwort ein.

Du siehst übrigens toll aus. Mit dem Kleid habe ich Dich noch nie im Büro gesehen.“

Danke“, war ihre schlichte Antwort, so als seien ihr auf einmal sämtliche Worte abhanden gekommen.

Ich habe einen Tisch reserviert. Hast Du diese Registrierungs-App auf Deinem Handy?“, fragte er.

Ja, lass uns hineingehen. Wir können uns gerne mit meinem Handy registrieren.“

In diesen Zeiten war es sehr kompliziert, ein Café zu betreten. Die Regeln änderten sich ständig und waren regional unterschiedlich. Ohne die besagte App wurden die Kontaktdaten umständlich auf einem Formular erfasst.

Liebe Kollegin, hast Du Hunger? Hinter der Theke gibt es die besten Bagels der Stadt.“

Nachdem sie sich registriert und endlich den Tisch erreicht hatten, schaute Sarah unauffällig ihr Gegenüber etwas genauer an. Matthias trug ein Jeanshemd und eine dunkle Jeans, was sehr lässig wirkte, außerdem trug er heute eine Brille. Er hatte schlanke gepflegte Hände, was ihr sehr gut gefiel.

Das Kleid, was du heute anhast, ist echt der Hammer“, merkte er an und grinste dabei.

Danke, beim Rad fahren war es etwas kompliziert.“

Später, nachdem die Kellnerin viele kleine Teller und Schälchen mit verschiedenen Frühstücksleckereien abgestellt hatte und Sarah voller Hingabe in ihrem Milchkaffee rührte, erzählte Matthias ein paar Anekdoten aus seiner Abteilung. Sarah prustete einmal laut los vor Lachen, als er die Brummgeräusche des hausinternen IT-Spezialisten nachahmte, der äußerst selten mit Worten kommunizierte.

Matthias betrachte sie aufmerksam, während sie lachte und auf einmal breitete sich eine angenehme Ruhe aus, auch alle Geräusche von den Nachbartischen waren in diesem Moment verstummt. Sarah erwiderte still seinen Blick und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ergriff Matthias wieder das Wort: „Es gefällt mir unheimlich gut, mit Dir hier zu frühstücken. So können wir die Pandemie-Atempause gemeinsam genießen, auch wenn unsere Kontaktdaten heute wieder in irgendeinem Speicher-Nirwana gelandet sind.“

Da magst Du recht haben“, sagte Sarah nachdenklich, „in diesen Zeiten ist es wahrscheinlich leicht für IT-Nerds, ich meine natürlich Spezialisten, Konsumenten-Profile zu erstellen. Wer weiß, vielleicht bekommen wir demnächst Werbung für neue Bagel-Kreationen von Café Schröder per Mail?“

Damit kann ich, glaube ich, leben“, er grinste, „wollen wir demnächst mal zusammen ins Kino gehen? Auch das ist wohl wieder möglich.“

Ja, warum nicht. Ich war schon über ein Jahr nicht mehr im Kino. Wirklich Wahnsinn, wenn man sich das überlegt.“

Darf ich dich heute einladen? Schließlich habe ich dich heute so früh mit meiner SMS geweckt.“

Ja, du darfst mich einladen. Den Kinoabend kann ich dann ja übernehmen“, antwortete Sarah.

Matthias hatte die Rechnung bezahlt und vor dem Café verabschiedeten sie sich.

Vielen Dank für das schöne Frühstück. Wir sehen uns ja wahrscheinlich am Montag im Büro.“

Davon gehe ich aus. Nehmen wir den ersten Kaffee in der Küche zusammen?“, fragte Matthias.

Gut, dann sehen wir uns am Montag um 8.00 Uhr in unserer Büroküche“, fasste Sarah zusammen und lächelte dabei, „einen schönen Sonntag für Dich morgen und denke nicht allzu viel an die Arbeit.“

Höchstens an Dich, tschüss, Sarah, und pass auf, dass Dein Kleid auf dem Fahrrad nicht weg fliegt.“

Tschüss, Matthias, kein Kommentar dazu von mir.“

Mittlerweile zeigte Sarahs Armbanduhr 13.00 Uhr an. In ihrem Briefkasten zu Hause war eine Benachrichtigung, dass ein Päckchen für sie bei Frau Schulze abgegeben worden war.

Sarah klingelte an Frau Schulzes Wohnungstür. Nach einer Weile öffnete sich die Tür und ein Kopf mit grauen Draht-ähnlichen Haaren schaute heraus.

Sie wollen bestimmt das Päckchen abholen, oder? Warten Sie, ich hole es.“

Während Sarah wartete, sprintete der Kater Spike ungewöhnlich schnell für sein Alter die Treppe herunter.

Hey, Spike, ich öffne Dir gleich unten die Tür“, sagte sie laut.

Ein Paket aus Hessen“, stellte Frau Schulze neugierig fest, „haben Sie Verwandte dort?“

Nein, danke fürs Annehmen und einen schönen Tag noch“, schnell verließ Sarah mit diesen Worten die Zone der nachbarschaftlichen Neugierde und ließ erst Spike ins Freie.

In ihrer Wohnung betrachtete sie das Paket von allen Seiten. Thomas hatte es sorgfältig beschriftet. Mit einer Schere öffnete sie es vorsichtig. Es war ein Umschlag und ein weiteres längliches, in Geschenkpapier eingewickeltes Paket darin. Das Geschenkpapier war mit fein gezeichneten Gingko-Blättern bedruckt. Sarah packte es im Zeitlupentempo aus, damit das schöne Papier, was an sich schon ein kleines Kunstwerk war, nicht dabei zu Schaden kam. Darin war in einem cremefarbenen Karton ein altmodisches Metall-Kaleidoskop. Sarahs Herz schlug bei diesem Anblick schneller, so etwas Schönes hatte sie lange nicht mehr in den Händen gehabt. Sie schaute hindurch und drehte es bedächtig dabei, während stetig neue Muster vor ihrem Auge entstanden. Als Kind hatte sie ein buntes Kaleidoskop aus Pappe besessen. Nie hatte sie sich daran satt sehen können, stundenlang wurde es gedreht und die Plastikperlen-Formationen staunend bewundert. Es lag in ihrer Kiste mit den besonderen Kindheitserinnerungen in ihrem Keller.


Liebe Sarah,

am Donnerstag bin ich wieder gut zu Hause angekommen und dachte die ganze Zeit daran, dass ich Dich leider nicht noch einmal sehen konnte. Ich weiß, es ist eigentlich unverzeihlich, eine tolle Frau wie Dich zu „versetzen“.

Als kleine Wiedergutmachung schicke ich Dir dieses Kleinod, was mir ein guter Freund, der mit Antiquitäten handelt, für Dich überlassen hat. :-) Ich finde, es passt zu Dir bzw. zu Menschen wie uns, die gerne Regentropfenmuster in Pfützen ansehen oder sogar mit einem Ast darin herumrühren, um die Verwirbelungen zu beobachten …

Vielleicht kommst Du mich bald besuchen? Die Corona-Lage ist ja gerade entspannter als noch vor ein paar Wochen. Ich werde alles dafür tun, um der beste Stadtführer, den diese hessische Stadt je gesehen hat, für Dich zu sein, inklusive Ausflug zu meinem Ferienhaus am Edersee, wenn Du noch ein paar Tage Urlaub dranhängen möchtest.

Ich freue mich, wenn Du an mich denkst, während das Kaleidoskop besonders harmonische Muster für Dich zaubert.

Auf Deinen Besuch bei mir in meiner Stadt freue ich mich jetzt schon und kann es kaum abwarten.

Dein Thomas

Seinabo Sey - Younger (Kygo Remix)

Fortsetzung folgt



Montag, 5. Juli 2021

#006.20 – Sarah – Regenbogen

 

#006.20 – Sarah – Regenbogen

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Heute kommt Sarah wieder zu Wort.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Regenbogen


Ein donnerndes Gewitter hatte die erste Hitzewelle des Jahres beendet. Es war Samstag und draußen rauschte der Sommerregen, der wunderbar duftete und nach der Hitze ungemein erfrischend war.

An diesem Morgen in Sarahs Traum im Halbschlaf regnete es auch. Sie träumte vom Schlosspark der hessischen Stadt, in der Thomas wohnte. Hoch über der Stadt erhob sich majestätisch das Schloss, umgeben von dem verwunschenen Park. Es roch nach feuchter Erde, Gras und Blumen. In ihrem Traum hatten sich Thomas und sie leidenschaftlich geküsst und waren sich in einem Pavillon, der etwas abseits stand, sehr nahe gekommen.

Ein Brummen, das überhaupt nicht zu der Traumszene passte, bahnte sich den Weg zu Sarahs Ohr. Es war der Nachrichtenton ihres Handys. Normalerweise schaltete sie das Gerät nachts immer aus, aber gestern war sie von der Arbeitswoche so erledigt gewesen, dass sie es vergessen hatte.

Völlig verschlafen und noch gefangen in ihrem Traum griff Sarah nach dem Telefon. Ihr Kollege Matthias hatte ihr eine Nachricht geschickt.

'Wieso schickt er mir mitten in der Nacht Nachrichten?' fragte sie sich leicht verärgert. Gerne wäre sie einfach in ihrem prickelnden Traum geblieben. Das Telefon zeigte emotionslos 7.32 Uhr an.

Guten Morgen liebe Kollegin, es ist noch sehr früh, ich weiß. Trotzdem wollte ich Dich fragen, ob ich Dich heute Vormittag zum Frühstück in das Café Schröder einladen darf. Eigentlich wollte ich Dich gestern deswegen ansprechen, aber Du warst dann schon weg. Im Café Schröder könnten wir unter der Markise sitzen. Dort gibt es unter anderem sehr gute Bagels. Was meinst Du? Viele Grüße von Matthias

Gestern beim ersten Kaffee in der Büroküche hatten sie Telefonnummern ausgetauscht. Im ersten Moment hatte sich Sarah ein wenig überrumpelt gefühlt, als er sie nach ihrer privaten Telefonnummer gefragt hatte, andererseits war er ein netter Kollege, der ihr auch äußerlich gut gefiel. Der kleine Flirt tat ihr gut, nachdem sie sich eingestanden hatte, dass Thomas und sie wegen der weit entfernten Wohnorte höchstwahrscheinlich kein Paar werden würden. Diese Erkenntnis war ein melancholischer nagender kleiner Schmerz, der sich in ihr Innerstes hinein gebohrt hatte, wie ein Ministachel mit Widerhaken.

'Darauf antworte ich später', überlegte sie und zog sich die Decke über den Kopf. Leider klappte die Rückkehr in das Land der Träume nicht mehr. Im Traum hatte sie sich Thomas so unglaublich nah gefühlt, jetzt lagen wieder mehr als 400 Kilometer zwischen ihnen.

'Knutschen im Schlosspark finde ich eigentlich besser als ein Kollegen-Frühstück, aber vielleicht hilft Kaffee weiter', dachte Sarah. Dann hatte sie eine Idee.

Sie zog sich schnell eine Jeans und ein T-Shirt an, putzte die Zähne, kochte einen Kaffee und füllte das Getränk in ihren Thermobecher, noch schnell eine Banane in die Tasche gepackt und natürlich einen Regenschirm und los ging es in den Wald ein paar hundert Meter entfernt.

Die Luft draußen roch wie frisch gewaschen, durchatmen war nach der Hitzewelle auch wieder möglich. Auch wenn das Styling heute morgen ausgefallen war, fühlte sich Sarah großartig. Das Handy lag auf dem Küchentisch und niemand würde ihre Gedankengänge stören.

Da es noch so früh am Morgen war, begegnete ihr nur eine Frau, die ihren nassen Hund ausführte. Auf Sarahs freundliches „Guten Morgen“ schaute sie nur mit hängenden Mundwinkeln auf die andere Straßenseite.

Im Wald glänzten die Blätter vom Regenwasser und der erdige Geruch aus ihrem Traum wehte in ihre Nase. Nur Thomas fehlte. Immer noch stach der kleine Stachel der Melancholie. Sie hatte in Thomas einen Seelenverwandten getroffen, der eine ähnlich geschärfte Wahrnehmung hatte und ganz neue Zusammenhänge im Kleinen und Großen herstellen konnte. Außerdem war er ein Schöngeist und in ihrem Traum vorhin noch dazu ziemlich leidenschaftlich.

Sarah hatte den Ort erreicht, wo sie ihren Kaffee genießen wollte: Ein Holz-Pavillon am Rande des großen Spielplatzes, der verlassen und voller Pfützen im Morgenlicht lag. Die Regentropfen zauberten Kreise auf die Pfützenoberflächen und ein vergessenes rotes Sandförmchen war mit Wasser vollgelaufen.

Während sie den heißen Kaffee trank, schaute sie dem Regen zu und ließ ihren Gedanken und Gefühlen freien Lauf.

Also, was sollte sie ihrem Kollegen antworten? Wollte sie überhaupt in das schicke Café gehen? Bei dem Gedanken wanderte ihr Blick auf die mit Matsch vollgespritzten alten Turnschuhe, die sie immer bei Waldspaziergängen trug und nie putzte. Andererseits war Matthias sehr nett und lustig und konnte sie sicherlich auf andere Gedanken bringen. Manchmal fragte Sarah sich, ob ein Teil der Verstimmung, die sie zuweilen verspürte, der Pandemie geschuldet war. Es war höchste Zeit, das langsam wieder abzulegen und nach vorn zu sehen. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Kochkurs? So etwas sollte doch demnächst wieder möglich sein. Oder die berufliche Fortbildung, die sie schon seit zwei Jahren anfangen wollte?

Nachdenklich packte sie den leeren Becher wieder in ihre Tasche.

'Danke Regen', dachte sie, 'also, gleich duschen, nein, erst die Nachricht beantworten, dann duschen und das schöne Kleid aus dem Schrank holen. Das Leben geht weiter, auch wenn der Traumprinz in Hessen im Schlosspark wandelt und gerade unerreichbar weit weg ist.'

Das einzige männliche Wesen auf dem Rückweg, das ihr begegnete, war kein Traumprinz sondern Spike, der Kater. Auch er hatte ein nasses Fell, aber irgendwie nie schlechte Laune wegen so einer Kleinigkeit. Er maunzte und Sarah ließ ihn ins Treppenhaus, wo er es sich in seiner Box in der Ecke gemütlich machte.

Das Telefon lag noch dem Küchentisch. Aus dem Küchenfenster war zu sehen, dass der Regen langsam nachließ und die Sonne kurz durch die Regenwolken schaute. Das waren ideale Voraussetzungen für einen Regenbogen.

Bob James: Organza

Fortsetzung folgt