Sonntag, 22. März 2020

#004.2 - Marie - Der Brief im Treppenhaus

#004.2 - Marie - Der Brief im Treppenhaus

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)



Heute berichte ich, was bei Marie aktuell los ist.
Marie ist verliebt und gleichzeitig stürzt die Welt in die große Corona Krise. 


Hannahs Brief im Treppenhaus

Die ganze Welt stand Kopf. Das Corona Virus beherrschte alle Medien, die Bewegungsfreiheit wurde immer mehr eingeschränkt und einige Menschen neigten zu Übersprungshandlungen in Form von übertriebener Vorratshaltung, wahrscheinlich um sich selbst zu beweisen, in dieser aus den Fugen geratenen Welt überhaupt noch irgendeinen Bereich unter Kontrolle zu haben.
Marie lernte während dieser ganzen Phase der massiven allgemeinen Verunsicherung Christian immer besser kennen. Sie war sehr glücklich darüber, manchmal sogar regelrecht euphorisch. Sie wünschte sich ab und zu, dass die Weltlage weniger kompliziert sein möge, weil auch eine Kennenlernphase zwischen zwei Liebenden zeitweise herausfordernd war. Dieses Schwanken zwischen dem Gefühl, angekommen zu sein, und andererseits wieder aufkeimende Zweifel, die sich bis jetzt als reine gedankliche Fiktionen herausgestellt hatten, beschäftigte Marie aktuell sehr. „Ich sollte manchmal einfach weniger nachdenken“, war Maries Schlussfolgerung, als sie – im Nachhinein völlig aus der Luft gegriffen – einen Anflug von Eifersucht auf die Ex-Frau intensiv mit Christian diskutiert hatte. Sie hatten sich regelrecht gestritten und das wegen einer etwas ungeschickten Formulierung von Christian, also eigentlich wegen gar nichts.
Mitten in diesem gedanklichen und gefühlsmäßigen Auf und Ab lief Marie am Donnerstag auf dem Weg ins Büro die Treppe herunter. Sie war – wie immer – spät dran. Unten neben den Briefkästen an der Wand hing ein Zettel. Darauf war in kindlicher Schrift und einem grünen Filzstift etwas geschrieben:

Liebe Nachbarn,
hiermit möchte ich Euch oder Ihnen meine Hilfe anbieten. Falls Sie mich nicht kennen, ich bin Hannah, 11 Jahre alt, und wohne im Erdgeschoss. 

Marie kannte Hannah und mochte das etwas schüchterne Kind sehr. Sie fotografierte den Zettel mit ihrem Handy, weil sie später unbedingt in Ruhe lesen wollte, was Hannah zu sagen hatte.
Als Marie wieder zu Hause war und die Nudeln mit Gemüse von gestern aufgegessen hatte, nahm sie ihr Handy zur Hand, öffnete das Foto von heute morgen aus dem Treppenhaus.
Die kleine Hannah schrieb weiter:
….
Wenn Sie Hilfe, z. B. für Einkäufe, brauchen, rufen Sie mich :
0151 – xxx xxx xx
Ich kann Ihnen die Sachen vor die Wohnungstür stellen und alle Dinge können wir telefonisch absprechen, so dass der Abstand, den man gerade halten sollte, eingehalten wird. Mein Angebot ist kostenlos für Sie. Ich darf momentan nicht in die Schule und habe Zeit dafür.
Da ich oft darüber nachdenke, wie es mit unserer Welt wohl weitergeht, schreibe ich Ihnen einige meiner Gedanken dazu auf. Wenn Sie sie lesen möchten, freue ich mich sehr darüber.
Ich finde es gerade gut, dass alle Menschen körperlich Abstand halten. Normalerweise wird geschubst und gedrängelt, das mag ich überhaupt nicht. Wenn ich jetzt für unsere Familie etwas einkaufe, kommt mir niemand zu nah. Könnten wir das beibehalten, wenn wieder alles „normal“ ist?
Außerdem ist alles sehr viel entspannter und leiser. Ich weiß, dass die meisten Menschen es mögen, wenn viel los ist, aber es gibt auch die anderen, die leisen Menschen. Alle sind wichtig, das möchte ich betonen. Ich lade Sie ein, sich folgendes vorzustellen:
Wenn Sie jemand sind, der sonst immer viel unternimmt und sich oft mit anderen Menschen trifft, stellen Sie sich vor, die Welt wäre immer so, wie sie im Moment ist: Ruhig und wenige Menschen, die man treffen kann. Dieser Gedanke ist anstrengend und ermüdend für Sie? Dann haben Sie dadurch vielleicht einen kleinen Eindruck, wie es leisen Menschen normalerweise fast immer geht. Sie bewegen sich in einer Umgebung, die nicht gut zu ihnen passt, müssen damit zurechtkommen und werden außerdem oft dafür kritisiert, weil sie so sind, wie sie sind.
Ich wünsche mir für die Zukunft und für die Welt, in der wir leben, dass alle Menschen mit ihren Besonderheiten mit Respekt behandelt werden und dass wir zusammen, die Hektik, den Stress, auch den Müllberg (weil fast Jeder sehr viele Dinge kauft) verkleinern. Wir hätten mehr Zeit zum Lesen, Spielen und miteinander reden; für die Sachen, die meiner Meinung nach wirklich glücklich machen.
Eure/Ihre Hannah
PS Unser Haus mag ich sehr, weil sich hier alle ganz lieb um den Kater Spike kümmern. Wenn das schon möglich ist, schaffen wir alles andere auch, oder?
Wir leisen Menschen laden Euch ein
die Geschichten zu entdecken,
die sich hinter knorrigen, alten Bäumen verstecken.
Wir erinnern Euch, wenn Ihr wollt,
an das einfache Dasein im hier und jetzt,
von Raum und Zeit durchdrungen,
selbstvergessen und eins mit der Welt.
Das ist kleiner Ausschnitt aus dem Poetry Slam, den ich dieses Jahr in der Schule vorgetragen habe, für diese besondere Zeit!

Marie war beeindruckt von dem kleinen Mädchen. „Unglaublich, was in diesem Kind schlummert“, dachte sie, „Hannah hat wahrscheinlich Recht, wir schaffen alles, wenn wir uns gegenseitig respektieren und zusammenhalten.“ Sie nahm das Telefon wieder in die Hand , um Christian anzurufen und ihm von ihrer kleinen Nachbarin zu erzählen. Außerdem war sie sehr neugierig auf die Geschichten, „die sich hinter knorrigen, alten Bäumen verstecken“. „Vielleicht ergibt sich irgendwann eine Gelegenheit, dass Hannah mir eine ihrer Geschichten erzählt“, dachte Marie und lächelte bei dem Gedanken. 


Fortsetzung folgt