#004.17
Marie – Ist die Menschheit verloren?
Dies
ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)
Heute
schreibe ich Euch eine kleine Episode
aus dem Leben von Marie
Ist die Menschheit verloren?
„Ich
vermiete unsere Wohnung nicht mehr an Ausländer“, sagte der alte Mann mit den
Trekkingsandalen und dem Rollator laut im Wartezimmer der Hausarztpraxis, „der
türkische Mieter hat den Keller aus dem Jahr 1900 beanstandet und uns mit einem
Anwalt gedroht, wenn der Kellerraum nicht saniert wird. Dann haben wir ihm
18.000,00 Euro gegeben, damit der auszieht. Nein, Ausländer kommen mir nie
wieder ins Haus.“ Die ältere Dame neben ihm mit ähnlichen Gesichtszügen nickte
zustimmend.
Marie
lauschte unfreiwillig diesem Statement Sie hatte weder gefrühstückt noch einen Kaffee
getrunken und entsprechend instabil fühlte sie sich kurz nach 8.00 Uhr morgens.
Sie hatte einen Vorsorgetermin und gleich würde eine Schwester mit einer
spitzen Nadel um die Ecke kommen und ihr Blut abzapfen. Zwei Stühle neben ihr
saß eine junge Frau mit einem Buch und starrte vor sich hin. Auch sie schien
sichtlich erschüttert von so viel Rassismus am frühen Morgen.
Marie
überlegte, ob sie sich in das Gespräch einmischen sollte.
Die Menschheit ist verloren, dachte
sie, während ihr Puls in die Höhe schoss.
Sie
hatte sich oft gefragt, wie es sein konnte, dass Menschengruppen einfach
kollektiv mit der Schuld Einzelner abgestraft wurden, nach dem Motto:
Kennst du einen, kennst du alle.
Sie
atmete einmal tief durch. Ergab es überhaupt Sinn, den alten Mann zum
Nachdenken anregen zu wollen? Einerseits war es verschwendete Energie,
andererseits wenn sich nie jemand solchen Leuten verbal entgegen stellte, verbreitete
sich dieser Alltagsrassismus immer mehr.
Was ist so schwer daran zu
differenzieren?, überlegte sie, natürlich gibt es unangenehme Menschen mit Migrationshintergrund, aber
die Quote bei den deutschen Kartoffeln ist garantiert genauso hoch.
Die
junge Frau neben ihr raschelte mit den Buchseiten.
„Herr
Schulz, bitte“, eine junge Frau im Poloshirt mit einer Mappe stand im Türrahmen
des Wartezimmers. Der ältere Herr mit den Sandalen erhob sich langsam und verließ
auf den Rollator gestützt mit seinem weiblichen Zwilling im Schlepptau langsam
den Raum. Während Marie beobachtete, wie das Ehepaar verschwand, regte sich gegen
ihren Willen das Mitgefühl. Der ältere Herr hatte offensichtlich große
Schmerzen beim Laufen.
Es kehrte
Ruhe ein. Marie holte das Telefon aus der Tasche und las eine Nachricht von
Christian. Er wünschte ihr einen guten Morgen und schickte einen Kuss-Smiley.
Sie lächelte, die Menschheit war doch noch nicht ganz verloren, besonders in
ihrem privaten Umfeld.
Die
Blutabnahme verlief ohne besondere Vorkommnisse. Sie verließ die Arztpraxis mit
knurrendem Magen und steuerte die nächstgelegene Bäckerei an. Dort gab es neben
der Verkaufstheke auch Sitzgelegenheiten.
Als
der Becher Kaffee und das Käsebrötchen ihr auf dem Tablett entgegen lachten,
fühlte sie sich schlagartig besser. Endlich hatte sich dieser Tag in einen
echten Urlaubstag verwandelt. Heute würde
sie nicht mehr ins Büro fahren sondern einfach das tun, wozu sie Lust hatte.
Sie
rührte nachdenklich in dem Kaffeebecher und dachte wieder an die Begebenheit im
Wartezimmer.
Es ist so traurig, dass sich manche
Menschen das Leben selbst zur Hölle machen, überlegte sie, ich hätte mich über das Verhalten dieses
Mieters auch geärgert, aber den ganzen Groll über alle Nicht-Deutschen
auskippen? Wie krank ist das? Hätte ich vielleicht doch etwas sagen sollen?
Hätte es etwas gebracht?
„Entschuldigen
Sie, ist hier noch etwas frei?“, eine ältere Dame mit rot angemalten Lippen
stand neben dem Tisch.
„Ja“,
murmelte Marie. Eigentlich hatte sie gar keine Lust auf Gesellschaft. Sie holte
ihr Telefon aus der Tasche und schrieb an Christian:
Liebster, danke für deine lieben
Morgengrüße. Beim Arzt hat alles geklappt, bis auf merkwürdige Leute im
Wartezimmer. Das erzähle ich dir später persönlich. Ich freue mich, dass wir beide
so ein schönes Leben haben. Küsschen Marie
Der Fokus auf das Gute ist in diesen
Zeiten das Allerwichtigste, dachte Marie, lächelte der Dame mit
den rot geschminkten Lippen freundlich zu und trug ihr Tablett zur
Abräumstation.
Mit
dem Rad fuhr sie nach Hause und freute sich über den freien Tag, den
Sonnenschein, gleich den Kater Spike ausgiebig zu kraulen und besonders auf
Christian heute Abend.
Fortsetzung folgt