Montag, 25. August 2025

#004.17 Marie – Ist die Menschheit verloren?

 

#004.17 Marie – Ist die Menschheit verloren?

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
 meiner Geschichten. :-)


Heute schreibe ich Euch eine kleine Episode
aus dem Leben von Marie

Ist die Menschheit verloren?



„Ich vermiete unsere Wohnung nicht mehr an Ausländer“, sagte der alte Mann mit den Trekkingsandalen und dem Rollator laut im Wartezimmer der Hausarztpraxis, „der türkische Mieter hat den Keller aus dem Jahr 1900 beanstandet und uns mit einem Anwalt gedroht, wenn der Kellerraum nicht saniert wird. Dann haben wir ihm 18.000,00 Euro gegeben, damit der auszieht. Nein, Ausländer kommen mir nie wieder ins Haus.“ Die ältere Dame neben ihm mit ähnlichen Gesichtszügen nickte zustimmend.

Marie lauschte unfreiwillig diesem Statement  Sie hatte weder gefrühstückt noch einen Kaffee getrunken und entsprechend instabil fühlte sie sich kurz nach 8.00 Uhr morgens. Sie hatte einen Vorsorgetermin und gleich würde eine Schwester mit einer spitzen Nadel um die Ecke kommen und ihr Blut abzapfen. Zwei Stühle neben ihr saß eine junge Frau mit einem Buch und starrte vor sich hin. Auch sie schien sichtlich erschüttert von so viel Rassismus am frühen Morgen.

Marie überlegte, ob sie sich in das Gespräch einmischen sollte.

Die Menschheit ist verloren, dachte sie, während ihr Puls in die Höhe schoss.   

Sie hatte sich oft gefragt, wie es sein konnte, dass Menschengruppen einfach kollektiv mit der Schuld Einzelner abgestraft wurden, nach dem Motto:

Kennst du einen, kennst du alle.

Sie atmete einmal tief durch. Ergab es überhaupt Sinn, den alten Mann zum Nachdenken anregen zu wollen? Einerseits war es verschwendete Energie, andererseits wenn sich nie jemand solchen Leuten verbal entgegen stellte, verbreitete sich dieser Alltagsrassismus immer mehr.

Was ist so schwer daran zu differenzieren?, überlegte sie, natürlich gibt es unangenehme Menschen mit Migrationshintergrund, aber die Quote bei den deutschen Kartoffeln ist garantiert genauso hoch.

Die junge Frau neben ihr raschelte mit den Buchseiten.

„Herr Schulz, bitte“, eine junge Frau im Poloshirt mit einer Mappe stand im Türrahmen des Wartezimmers. Der ältere Herr mit den Sandalen erhob sich langsam und verließ auf den Rollator gestützt mit seinem weiblichen Zwilling im Schlepptau langsam den Raum. Während Marie beobachtete, wie das Ehepaar verschwand, regte sich gegen ihren Willen das Mitgefühl. Der ältere Herr hatte offensichtlich große Schmerzen beim Laufen.

Es kehrte Ruhe ein. Marie holte das Telefon aus der Tasche und las eine Nachricht von Christian. Er wünschte ihr einen guten Morgen und schickte einen Kuss-Smiley. Sie lächelte, die Menschheit war doch noch nicht ganz verloren, besonders in ihrem privaten Umfeld.

Die Blutabnahme verlief ohne besondere Vorkommnisse. Sie verließ die Arztpraxis mit knurrendem Magen und steuerte die nächstgelegene Bäckerei an. Dort gab es neben der Verkaufstheke auch Sitzgelegenheiten.

Als der Becher Kaffee und das Käsebrötchen ihr auf dem Tablett entgegen lachten, fühlte sie sich schlagartig besser. Endlich hatte sich dieser Tag in einen echten  Urlaubstag verwandelt. Heute würde sie nicht mehr ins Büro fahren sondern einfach das tun, wozu sie Lust hatte.

Sie rührte nachdenklich in dem Kaffeebecher und dachte wieder an die Begebenheit im Wartezimmer.

Es ist so traurig, dass sich manche Menschen das Leben selbst zur Hölle machen, überlegte sie, ich hätte mich über das Verhalten dieses Mieters auch geärgert, aber den ganzen Groll über alle Nicht-Deutschen auskippen? Wie krank ist das? Hätte ich vielleicht doch etwas sagen sollen? Hätte es etwas gebracht?

„Entschuldigen Sie, ist hier noch etwas frei?“, eine ältere Dame mit rot angemalten Lippen stand neben dem Tisch.

„Ja“, murmelte Marie. Eigentlich hatte sie gar keine Lust auf Gesellschaft. Sie holte ihr Telefon aus der Tasche und schrieb an Christian:

Liebster, danke für deine lieben Morgengrüße. Beim Arzt hat alles geklappt, bis auf merkwürdige Leute im Wartezimmer. Das erzähle ich dir später persönlich. Ich freue mich, dass wir beide so ein schönes Leben haben. Küsschen Marie

Der Fokus auf das Gute ist in diesen Zeiten das Allerwichtigste, dachte Marie, lächelte der Dame mit den rot geschminkten Lippen freundlich zu und trug ihr Tablett zur Abräumstation.

Mit dem Rad fuhr sie nach Hause und freute sich über den freien Tag, den Sonnenschein, gleich den Kater Spike ausgiebig zu kraulen und besonders auf Christian heute Abend.

Fortsetzung folgt