Sonntag, 29. Mai 2022

#007.5 – Jessica – Geister der Vergangenheit

 

#007.5 – Jessica – Geister der Vergangenheit

Dies ist das Zuhause der Menschen, Haustiere und
meiner Geschichten. :-)


Jessica gruselt sich nachts.
Sie wohnt im 2. Stock rechts.

Geister der Vergangenheit


 
Ich lief durch die dunkle Nacht, Schweiß rann mir das Gesicht herunter. Schnelle Schritte und ein unterdrücktes Schnaufen waren hinter mir zu hören. In welche Geschichte war ich nur hineingeraten? Alles hatte so harmlos mit einer E-Mail angefangen.

Vor zwei Wochen befand sich in meinem Posteingang eine Einladung zu einem Klassentreffen. Es handelte sich nicht um die Klasse, mit der ich meinen letzten Schulabschluss bestanden hatte, sondern um eine Schulphase davor. Holger schrieb, dass er viel Mühe darauf verwendet hätte, alle ehemaligen Klassenkameraden und -kameradinnen (so musste es laut Holger richtig heißen; der Satz war mit einem zwinkernden Smiley geschmückt) in den Weiten der analogen und digitalen Welt zu finden. Als ich das las, fiel mir wieder ein, wie unsympathisch ich Holger damals fand. Mein erster Impuls war, gar nicht auf diese Mail zu reagieren. Falls ich demnächst jemanden aus dieser Truppe oder gar Holger beim Einkaufen treffen sollte, konnte ich das Argument bringen:

Eine Mail von Holger/Dir habe ich nicht bekommen. Ach, das ist aber schade, so gerne hätte ich die Ehemaligen der Klasse 10 c wieder getroffen. Der Termin war gestern? Na ja, wenn wieder so etwas geplant ist, meldet Euch doch bei mir.“

Leider passierte es mir ab und zu, dass ich ein ungutes Gefühl überging. Daraus entstanden oft Situationen, in denen wirklich alles schief ging.

Als Ort war ein Lokal außerhalb der Stadt angegeben. Na toll, als Radfahrerin war es ziemlich beschwerlich zu erreichen, Busse fuhren nur selten an diesen abgelegenen Ort. Also würde ich ein Taxi bestellen. Es war schon lange her, dass ich einmal dort gewesen war. Das Essen war mittelmäßig und das Ambiente in meiner Erinnerung altbacken.

An dem Tag des Klassentreffens nahm das Unglück schon zu Hause seinen Lauf. Zwei Versuche, eine Strumpfhose anzuziehen, endeten mit Laufmaschen …. Warum nahm ich das nicht als Omen, um einfach zu Hause zu bleiben? Im Gegenteil, während das Taxi vor meinem Haus vorfuhr, lächelte ich mir selbst im Spiegel aufmunternd zu und dachte dabei: 'Wird schon schiefgehen.'

Etwas später betrat ich das Lokal irgendwo im Nirgendwo. Im Eingangsbereich stand ein staubiger Zigaretten-Automat aus dunklem Holz und Schlagermusik schallte klirrend aus unsichtbaren Lautsprechern. Die Einrichtung erinnerte mich an die Eiche-Rustikal-Schrankwand meiner Oma, inklusive in die Jahre gekommener Kunstblumen, Zinnkrüge und anderen Dekorations-Höhepunkten aus den 70-er-Jahren. Sogar die Luft mutete muffig an, so würden aus den Ritzen der alten Theke Geruchsgeister aus dieser Zeit entweichen.

Holger stand vor der Theke und erzählte drei Ehemaligen aus der Riege der Computerfreaks eine umständliche Geschichte von seinem Auto. Die blassen Zuhörer-Gestalten hingen an seinen Lippen, ich rollte innerlich mit den Augen. Plötzlich unterbrach Holger seine spannende Geschichte:

Ah, da ist Jessica“, ein unangenehmes Grinsen zierte auf einmal sein aufgedunsenes blasses Gesicht.

Guten Abend zusammen. Warum treffen wir uns so weit draußen?“, während ich das sagte, näherte ich mich vorsichtig dieser Gruppe.

Ich wollte dir eine Freude bereiten, Jessica, du magst doch das Land“, Holgers Grinsen schmerzte mich körperlich.

Kommen auch ein paar von den Mädels?“, lenkte ich ab.

Sonja, Kerstin und Maren haben zugesagt, bei den anderen weiß ich es nicht genau“, lautete seine Antwort.

Mein Fluchtreflex wurde sofort bei der Aufzählung dieser Namen geweckt. Ausgerechnet diese drei, die mich damals auf dem Kieker gehabt und keine Möglichkeit, mich zu ärgern, ausgelassen hatten. Ich war damals schüchtern und ein leichtes Opfer gewesen.

Entsprechend der Gäste gestaltete sich der Abend zäh. Das Essen war ohne Liebe matschig und salzarm gekocht, die Getränkekarte in den 80-ern stehen geblieben. Unter der Rubrik Cocktails war tatsächlich  „grüne Witwe“ aufgeführt. Schon damals empfand ich die Optik dieses Getränkes irgendwie als verstrahlt und wenig appetitlich .

Die Gesprächsthemen am Tisch waren fade und nichtssagend. Holger prahlte mit seinem Haus, dem großen Rasenmäher und den zwei Garagen. Die anwesenden ehemaligen Klassenkameradinnen beschrieben ihre offenen Küchen und die darin enthaltenen Maschinen. Mit steigendem Alkoholpegel wurden Rasenmäher, Autos und Küchenmaschinen immer größer und teurer. Da ich bei dem Thema „Küchengeräte“ nicht einsteigen wollte, schwieg ich die meiste Zeit.

In so einer Konsumgüter-Wachstumsphase stand ich auf und ging in Richtung WC's. Meine Tasche nahm ich mit, um mir gleich ein Taxi für die Heimfahrt zu bestellen. Nach dem Händewaschen stand ich in dem schummerigen Flur und holte mein Mobiltelefon aus der Handtasche. Hinter einem Stapel Stühlen erklang die Stimme von Holger:

Nicht so eilig, Süße. Wir haben doch heute noch etwas vor.“

Er rückte mir bedrohlich näher. Ich konnte seinen mit Alkohol getränkten Atem riechen.

Ich nahm meinen Mut zusammen, richtete mich auf und antwortete:

Was du vor hast, weiß ich nicht. Ich werde jetzt nach Hause fahren.“

Er griff nach mir und flüsterte:

Denke nicht einmal daran, zu schreien oder wegzulaufen.“

Im Halbdunkel war eine Tür zu erkennen. 'Jetzt oder nie', dachte ich, drehte mich um und lief in Richtung Tür. Den Überraschungsmoment nutzte ich und rannte nach draußen und knallte die Tür zu. Gut, dass ich niemals hohe Schuhe trug. Draußen war ein schmutziger Hof mit Getränkekisten-Stapeln und Outdoor-Plastikstühlen vage zu erkennen.

Dann rannte ich in diesem Kaff um mein Leben. Holger schnaufte hinter mir. An der Straße winkte ich einer Frau in einem Auto zu. Holger blieb zurück, jetzt hatte er wohl kalte Füße bekommen. Zu meinem Glück hielt die Autofahrerin an ….

Schweißnass wachte Jessica auf. Dieser Traum war so real gewesen, selbst die „grüne Witwe“ im Glas hatte sie genau vor sich gesehen und sich innerlich dabei geschüttelt.

Gestern war sie von ihrem Kurzurlaub zurück gekehrt.

Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Was hatte dieser Traum wohl zu bedeuten. Sicher, einiges war in ihrer Teenagerphase schräg gelaufen und einen abstoßenden Holger hatte es wirklich in der zehnten Klasse gegeben, aber was hatte ihr Unterbewusstsein daraus gemacht? Ein Horror-Klassentreffen, das real nicht stattgefunden hatte. Auch, was aus Holger, den Computerfreaks oder ihren speziellen Klassenkameradinnen geworden war, wusste Jessica nicht.

'Vielleicht kommen in diesem neuen Lebensabschnitt einfach viele Dinge wieder hoch, die ich vergessen habe', überlegte sie und knipste dabei die Nachttischlampe an. Dieser Traum hatte sich echt und unheimlich angefühlt.

Später stand sie in der Küche und kochte sich einen Tee. Spike, der Kater, tauchte auf einmal in ihren Gedanken auf. Gestern hatten sie sich ausgiebig nach ihrer Reise in die Hauptstadt begrüßt.

'Träumen Kater eigentlich? Und wenn ja, wovon?', überlegte sie, 'morgen ist ein neuer Tag und außerdem habe ich noch frei. Die alten Fotoalben werde ich mir schnappen und überlegen, ob mir noch etwas zu diesem Alptraum einfällt. Vielleicht sollte ich nicht nur Gegenstände sondern auch Episoden, die schon lange vergangen sind, aufräumen. Einiges habe ich wohl erfolgreich verdrängt.'

Mit diesem Vorsatz schlief sie später wieder traumlos ein, ihr letzter Gedanke ging an Spike und seine Katerträume.

Bob James and Earl Klugh: Secret Wishes